Glyphosat in der Landwirtschaft: Zwischen „böser Industrie“ und „gutem Ökoanbau“
Viele Deutsche lehnen Glyphosat ab und fordern mehr „Bio“. Bezahlen wollen dafür aber nicht alle. Und bald neun Milliarden Menschen lassen sich so nicht ernähren. Deshalb braucht die Landwirtschaft einen Mittelweg. Ein Kommentar.
Es grünt und blüht und sprüht. Wer dieser Tage durchs Land fährt, sieht häufiger Spezialfahrzeuge über die Felder rollen, die große Ausleger über die Pflanzen halten und Spritzmittel ausbringen. Neun von zehn Deutschen rümpfen darüber die Nase, sie halten es für schädlich, Unkraut und Schädlinge mit Chemikalien zu dezimieren. Das geht aus der Naturbewusstseinsstudie hervor, die Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) im April vorgestellt hat.
Gestützt von dieser umfragegenerierten Zustimmung verschärfte sie jetzt ihre Position zum Herbizid Glyphosat: Eine erneute Zulassung ab Juli, über die die EU in dieser Woche abstimmen will, kommt für Hendricks nicht mehr infrage, auch nicht mit bestimmten Auflagen. Solange nicht zweifelsfrei nachgewiesen sei, dass Glyphosat gesundheitlich unbedenklich ist, soll es überhaupt nicht mehr zugelassen werden, sagte die Politikerin.
Nur fünf Prozent des Umsatzes bei Lebensmitteln werden mit Bio-Produkten gemacht
Diese Forderung ist populär, Wirtschaftsminister und SPD-Kollege Sigmar Gabriel vertritt sie jetzt auch. Die Argumente der Befürworter und Gegner sind hinlänglich bekannt und müssen an dieser Stelle nicht aufgezählt werden. Die verbreitete Glyphosat-Aversion ist allerdings gut geeignet, den inneren Widerspruch aufzudecken, in dem viele sich befinden, wenn es um die Landwirtschaft geht. Die Ablehnung von Agrarchemikalien im Allgemeinen und Glyphosat im Besonderen, dazu der Wunsch von 84 Prozent der Befragten in der genannten Studie, die Bio-Landwirtschaft auszubauen – es müssen goldene Zeiten für die Öko-Bauern sein! Tatsächlich werden bei Lebensmitteln nur rund fünf Prozent des Umsatzes mit Bio-Produkten gemacht. Offensichtlich sind viele bei Befragungen freigiebiger als beim Bezahlen.
Die Sehnsucht nach dem Bio-Landbau wird auch vom industrialisierten konventionellen Teil der Branche befördert. Indem die Firmen beispielsweise ihre Milchkartons mit ein paar versprengten Kühen bedrucken, die friedlich auf weitläufigen sattgrünen Weiden stehen. Diese paradiesischen Bilder suggerieren, dass eine solche zurückhaltende Landwirtschaft machbar ist – und zwar für bald neun Milliarden Menschen mit ihrem Hunger nach Essen und biologischen Rohstoffen, die Erdöl und Kohle ablösen sollen.
Flächen sind begrenzt
Nein, das wird nicht gelingen. Die Flächen sind begrenzt. Um Teller und Tank zu füllen, müssen gewisse Erträge erzielt werden. Es ist an der Zeit, darüber zu diskutieren, wie die Landwirtschaft der Zukunft aussehen soll, ohne in das Schema „böse Industrie“ oder „guter Ökoanbau“ zu verfallen. Diese Vereinfachung werde den komplexen Anforderungen der Nahrungsmittelherstellung nicht gerecht, schreibt Jan Grossarth in seinem aktuellen Buch „Vom Land in den Mund. Warum sich die Nahrungsindustrie neu erfinden muss“. Ausgehend von Recherchereisen beschreibt der FAZ-Journalist darin angenehm unaufgeregt, wie der Alltag heute in der Landwirtschaft aussieht, bei „konventionellen“ und bei „Öko“-Bauern, bei Hochleistungsfarmern, die auf gentechnisch veränderte Pflanzen setzen, und bei Aussteigern, die sich selbst versorgen.
Insektenzucht als Proteinquelle
Im besten Fall speist sich die Landwirtschaft der Zukunft mit Anregungen aus allen Richtungen. Sie hält Tiere so, dass sie sich wohlfühlen. Sie lässt Blüh- und Gehölzstreifen neben Feldern stehen, um Biodiversität zu erhalten. Sie setzt moderne Bodenbearbeitung ein, um die Erosion fruchtbarer Krume zu verringern, die noch immer 100- bis 1000-fach höher ist als auf ungenutzten Flächen. Sie gibt Tieren und Pflanzen die Medikamente und Düngemittel, die helfen, und verzichtet auf esoterische Behandlungen. Sie treibt die Insektenzucht zur Proteinversorgung voran, denn die ist umweltverträglicher als die Geflügel- und Säugetierwirtschaft (rund zwei Milliarden Menschen essen regelmäßig Käfer, Heuschrecken und andere Insekten, auch als Futtermittel sind diese geeignet).
Und sie versteckt sich nicht länger hinter hohen Mauern und blickdichten Stallwänden, sondern zeigt und erklärt, was sie tut und was nicht. So wie bei der Aktion „Schau ins Feld“: Dabei verzichten Landwirte auf einem kleinen Teil ihres Feldes auf Pflanzenschutzmittel, um in diesem „Schaufenster“ zu demonstrieren, was neben den Kulturpflanzen noch alles hochkommt und die Ernte bedroht. Dabei zeigt sich: Spritzen hat auch Vorteile.
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