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Vorhersage von Naturkatastrophen: Ziegen als Erdbeben-Orakel

Können Schlangen oder Schafe Beben erahnen? Deutsche Forscher entwickeln ein tierisches Frühwarnsystem.

Es ist das Dilemma der Erdbebenforscher: Sie messen und modellieren und suchen im Knacken und Knirschen des Erdgesteins nach verlässlichen Vorboten des Unheils. Oft schon dachten sie, Muster in den Zuckungen der Erdplatten, der seismischen Aktivität vor großen Beben gefunden zu haben – nur um dann wieder von einer Ausnahmekatastrophe überrascht zu werden, die den Regeln widersprach.

Bis heute lässt sich keine verlässliche Erdbebenvorhersage treffen. Womöglich kommt nun allerdings der Durchbruch aus einer Ecke, die nicht nur Seismologen stets suspekt war: von Tieren.

Es gibt zahlreiche Anekdoten von verschiedenen Tierarten, die sich nicht erst Sekunden oder Minuten vor einem Erdbeben auffällig verhielten und auf seismische Aktivitäten im Boden reagierten, sondern sogar schon Stunden oder Tage vor einem großen Beben oder Vulkanausbruch. Menschen, die diese Zeichen verstehen, bliebe also genug Zeit zur Flucht.

Der Römer Plinius der Ältere berichtete beim Ausbruch des Vesuvs 79 n. Chr. davon. Auch nach dem großen Beben 2004, das den verheerenden Tsunami auslöste, hieß es, auf der Insel Simeuluë ganz in der Nähe des Epizentrums vor der Küste von Sumatra habe es kaum Tote gegeben. Die Einheimischen sollen den nervösen Tieren auf die Hügel gefolgt sein. In Sri Lanka waren es die Elefanten, die frühzeitig ins Landesinnere flohen.

Merkwürdiges Tierverhalten war auch einer der Anlässe für die Evakuierung der chinesischen Großstadt Haicheng am 3. Februar 1975. Dort hatte es nicht nur eine Reihe kleiner Vorbeben gegeben. In der Umgebung waren auch zahlreiche Schlangen mitten im Winter aus ihren Verstecken gekrochen, obwohl sie dann jämmerlich erfroren. Einen Tag später erschütterte ein Erdbeben die Stadt, rund 2000 Menschen starben. Ohne die Evakuierung, so rechnete man später hoch, hätte es mindestens 150.000 Tote gegeben.

Wenn Tiere am Ätna Panik kriegen

Trotzdem: Zahlreiche Versuche, die „Vorahnung“ von Tieren wissenschaftlich zu beweisen, scheiterten. Das wissen auch die Ornithologen der Vogelwarte Radolfzell. Dennoch testen sie ein tierisches Frühwarnsystem für Vulkanausbrüche und haben sogar schon ein Patent darauf beantragt. Sie arbeiten dabei mit Satelliten-Telemetrie. Am Ätna, einem der aktivsten Vulkane der Welt, haben sie vier Schafen und 17 Ziegen rund um den Berg GPS-Peilsender mit Beschleunigungssensoren angeheftet.

„Bei allen sieben größeren Ausbrüchen der letzten Jahre sind die Tiere vorher in den nächsten Unterschlupf geflüchtet“, berichtet Martin Wikelski, Direktor der Vogelwarte. Und zwar alle gleichzeitig. Ein anderer Auslöser, etwa ein umherschleichender Wolf, sei daher auszuschließen.

Die Tiere reagierten stets vier bis sechs Stunden vor einem Ausbruch des Vulkans. Und das Bewegungsmuster war so typisch, dass der Computer es automatisch erkennt: Nachts schreckten die Tiere auf und blieben dauerhaft nervös. Tagsüber flohen sie schnurstracks ins nächste Dickicht. „Worauf genau die Tiere reagieren – vielleicht seismische Störungen oder austretende Gase –, wissen wir nicht“, sagt Wikelski.

Seismologen sind skeptisch: „Es wurde schon häufiger untersucht, ob Tiere zuverlässig vor solchen Katastrophen warnen“, sagt Frederik Tilmann vom Geoforschungszentrum Potsdam. „Aber bislang konnte das niemand belegen.“

Vulkanausbrüche kündigen sich durch seismische Aktivitäten an, die Menschen zwar nicht spüren, die Seismometer der Forscher dennoch detektieren können. „Wenn die Tiere eine bessere Vorhersage liefern, würde mich das sehr überraschen. Das müsste man natürlich vergleichen.“

Das haben die Radolfzeller Ornithologen vor, und mit dem Patent in der Tasche werden sie alle Daten veröffentlichen, sodass sich jeder selbst ein Bild machen kann. „Wir stehen noch am Anfang“, meint Wikelski. Er betont allerdings, dass der Ätna seine Ausbrüche nicht seismologisch ankündige, jedenfalls nicht vier bis sechs Stunden vorher.

„Sein zentraler Schlot steht sperrangelweit offen, so kann das Magma unbemerkt aufsteigen“, bestätigt Vulkanologe Boris Behncke, der den Ätna erforscht. Insofern, so Wikelski, böten die Tiere zumindest dort sehr wohl einen Vorteil. Als Nächstes peilt Wikelski den indonesischen Vulkan Merapi an.

Außerdem prüft sein Team, ob die Methode auch bei Erdbeben hilft. Dazu wurden drei Elefanten und vier Wasserbüffel in Sumatra mit Sendern ausgestattet – für mehr fehlt bislang das Geld. Jetzt heißt es: Warten auf das nächste Beben. Und dann auf weitere, um sicherzugehen. Bis ein Nachweis erbracht ist, wird es also noch dauern.

Es könnte an Veränderungen in der Luft liegen

Die Hoffnung, dass er gelingt, scheint berechtigt. Denn auch die Zoologin Rachel Grant von der englischen Anglia Ruskin Universität hat zusammen mit Friedemann Freund, Mineraloge am Ames Forschungszentrum der US-Raumfahrtbehörde Nasa in Kalifornien, eine erste erfolgreiche Studie dazu gemacht und im April dieses Jahres veröffentlicht.

Sie haben im Yanachaga Nationalpark in Peru die Sichtungen von Tieren durch Kamerafallen gezählt. An typischen Tagen waren es 5 bis 15. Doch im Vorfeld eines schweren Erdbebens am 24. August 2011 sank die Quote beträchtlich. Im Zeitraum von 23 Tagen vor dem Ereignis liefen weniger als fünf Tiere vor die Kamera, in der letzten Woche vor dem Beben kein einziges. Kurz danach normalisierte sich die Zahl wieder. Für einen tropischen Gebirgsregenwald, der vor Leben strotzt, ist das eine höchst ungewöhnliche Ruhe.

Grant und Freund haben eine Vermutung, was die Tiere so lange im Voraus verschreckt: „Wenn das Gestein im Untergrund stark unter Druck gerät, setzt es positiv geladene Sauerstoff-Ionen frei, die dann nach oben steigen und die Luftchemie verändern“, erklärt Freund.

„Diese Veränderung können Tiere womöglich wahrnehmen“, vermutet Grant, „und verkriechen sich.“ Über den Grund kann man nur spekulieren. Es gibt zwar die Vermutung, dass positiv ionisierte Luft auch in niedriger Konzentration krank macht, wissenschaftlich erwiesen ist das aber nicht.

Mit entsprechendem Gerät analysierten Grant und ihr Forscherkollege von der Nasa in Peru auch den Ionisierungsgrad der Luft. Eine besonders starke Fluktuation stellten sie acht Tage vor dem Beben fest – just als die Aktivität der Tiere am deutlichsten abfiel. Auch Martin Wikelski hält das für einen interessanten Hinweis: „Dennoch sollte man sich nun nicht auf die Messung der Luftchemie verlegen.“ Es könnten weitere, bislang unbekannte Faktoren eine Rolle spielen.

„Bis sich die ersten Ergebnisse bestätigen und entsprechende Systeme Anwendung finden könnten, wird es aber noch viel Entwicklungsarbeit brauchen“, sagt Wikelski. Zwischenergebnisse der Studien will sein Team alsbald vorlegen. Vielleicht werde sich dann zeigen, dass die Methode bei einigen, aber nicht allen seismischen Ereignissen funktioniert.

Oder dass die Tiere auch mal Fehlalarm auslösen. „Momentan sieht es aber so aus, als könnten sie zumindest einen Beitrag zur Katastrophen-Vorhersage leisten.“

Jan Berndorff

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