Suche nach Endlager: Wohin mit dem radioaktiven Müll?
Ohne die Einbindung von allen gesellschaftlichen Akteuren geht es bei der Suche nach einem Endlager nicht voran. Das an der Freien Universität angesiedelte Forschungsprojekt Entria ist nach fünf Jahren abgeschlossen – und hofft auf Fortsetzung.
Wohin sollen 30 000 Kubikmeter hochradioaktiver und 600 000 Kubikmeter schwach- und mittelradioaktiver Müll, den uns das Zeitalter der Kernkraft hinterlässt? Auch wenn die verbleibende Zeit, in der die Kernspaltung in Deutschland noch zur Energieerzeugung genutzt werden wird, überschaubar ist, bleibt die Frage der Endlagerung noch lange ein Problem. Genau gesagt für die nächsten 40 000 Generationen, rechnet Achim Brunnengräber, habilitierter Politikwissenschaftler und Projektleiter am Forschungszentrum für Umweltpolitik (FFU) der Freien Universität, vor. Denn für eine Million Jahre muss der Nachweis erbracht werden, dass der hoch radioaktive Müll sicher gelagert werden kann.
Ob und wie das gelöst werden kann, untersuchen Expertinnen und Experten im Rahmen eines mit 15 Millionen Euro geförderten Großprojekts des Bundesforschungsministeriums namens Entria. Das Kürzel steht für „Entsorgungsoptionen für radioaktive Reststoffe: Interdisziplinäre Analysen und Entwicklung von Bewertungsgrundlagen“. Rund 60 Forscherinnen und Forscher aus 13 wissenschaftlichen Einrichtungen arbeiten dort interdisziplinär zusammen. Sie beschäftigen sich aus natur-, ingenieurs-, geistes-, rechts- sowie aus politik- und sozialwissenschaftlicher Perspektive mit dem Problem der Endlagerung.
Entria lief über fünf Jahre und endet mit diesem Jahr. Doch ein Folgeprojekt – Entria-plus – zeichnet sich bereits ab. „Denn die Fragen sind viel komplexer als angenommen“, sagt Achim Brunnengräber. Der große Forschungsbedarf hat ihn, wie er einräumt, durchaus überrascht.
Das Team listete 300 Akteure und ihre Interessen auf
Es lässt ihn noch immer staunen, wie gering die Zahl politik- und sozialwissenschaftlicher Analysen zu Fragen der Endlagerung ist – obwohl hochradioaktiver Müll schon seit Jahrzehnten erzeugt wird. Selbst in den technischen Bereichen sei noch vieles offen – etwa, wie der Endlagerbehälter beschaffen sein muss, und welche Art der Lagerung die beste Entsorgungsvariante ist, ob mit oder ohne Rückholmöglichkeit. Angesichts der Größe des Problems und weil so viele künftige Generationen betroffen sein werden, müsse die gesellschaftliche Debatte viel intensiver geführt werden, sagt Brunnengräber. Dass das nicht passiert – trotz eines bereits 2013 verabschiedeten Standortauswahlgesetzes, der Arbeit der Endlagerkommission in den Jahren 2014 bis 2016 oder neu geschaffener Institutionen auf EU-Ebene – liege auch daran, dass es sich um ein sehr verzwicktes Langzeitproblem handele, mit dem kaum „positive Narrative“ verbunden werden können.
In fünf Projekten analysierte das Entria-Team des FFU die gesellschaftliche Seite der Debatte. Unter anderem wollten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wissen, wer eigentlich die Akteure im Streit um ein Endlager sind – „ein bislang viel zu wenig erforschter Bereich“, sagt Brunnengräber. Doch die Frage, wer auf welcher Seite mit welcher Motivation wofür eintritt, sei für die Suche nach einer gesellschaftlichen Lösung unabdingbar. In einem Arbeitsbericht listete das Team 300 Akteure auf, klassifizierte sie und untersuchte, welche Interessen sie leiten.
Im nächsten Schritt standen die Konfliktanalyse und die Akzeptanz im Zentrum. „Wie kann der Suchprozess möglichst konfliktarm organisiert werden? Mit welchen neuen Problemen ist zu rechnen, wenn ein Endlager gefunden worden ist?“, waren dabei wichtige Fragen. Die Einbindung möglichst aller relevanten Akteure und eine hohe Flexibilität im Umgang mit unvorhergesehenen Entwicklungen seien dabei entscheidend, sagt Brunnengräber.
Weil auf der ganzen Welt noch kein Endlager für den hochradioaktiven Müll in Betrieb genommen wurde, schaute das Forscherteam auch, wie andere Staaten das Problem angehen. Die Ergebnisse waren wenig ermutigend: Fast überall wurde zunächst dem sogenannten DAD-Prinzip (decide, announce, defend – entscheide, verkünde, verteidige) gefolgt. Die Entscheidungen für einen Standort wurden von Regierungen getroffen, verkündet und – nicht selten gegen große gesellschaftliche Widerstände – verteidigt. „Das funktioniert nicht, alle Versuche dahingehend sind gescheitert“, konstatiert Achim Brunnengräber. Auch für Deutschland gelte das: „Wir haben zwar ein Gesetz, einen Kommissionsbericht, institutionelle Reformen und durchaus auch viele gute Impulse aus der Bevölkerung – aber weder einen Standort noch ein Endlager.“
Gesellschaftliche Mitsprache ist der Schlüssel bei der Standortsuche
Dabei sei er überzeugt: Die Akzeptanz werde geringer, je stärker von „oben“ entschieden werde und je näher der Standort an das eigene Wohnumfeld heranreiche. Auch Öffentlichkeitsbeteiligung und Transparenz seien dann keine Garantie mehr dafür, dass die Standortsuche erfolgreich verläuft. In der Schweiz und in Großbritannien schienen solche Orte schon gefunden, die Bevölkerung war eingebunden, aber plötzlich wuchsen die Empörung und der Protest – und die Vorhaben wurden wieder auf Eis gelegt.
Grund dafür, sagt Brunnengräber, seien nicht zuletzt auch alte Konflikte zwischen dem Staat, den Betreibern von Kernkraftwerken und den vielen Anti-Atomkraft-Initiativen. Man misstraue sich, gehe gar nicht erst gemeinsam in Kommissionen und habe völlig unterschiedliche Vorstellungen von Bürgerbeteiligung und Lösungsansätzen. Wichtig für die Sozialwissenschaften sei es daher, diese historisch gewachsenen Konflikte gemeinsam mit den Akteuren aufzuarbeiten und in die Forschung einzubeziehen. „Ohne Vergangenheitsbewältigung kommen wir hier nicht voran“, sagt der Forscher. Er sieht die parlamentarische Demokratie gefordert, bei der Standortsuche stärker Elemente der gesellschaftlichen Mitsprache und des Dialogs umzusetzen. Mehr Vertrauen könne von staatlicher Seite zum Beispiel auch dadurch geschaffen werden, dass die Bürgerinitiativen eine finanzielle Unterstützung erhielten, um eigenständig wissenschaftliche Expertisen in Auftrag zu geben.
Ihr zentrales Ziel, nämlich belastbare Argumente für die Oberflächenlagerung sowie die Endlagerung mit und ohne Rückholung zu liefern, haben die Expertinnen und Experten im Verbundprojekt Entria erreicht. Im Forschungsprozess wurden aber viele weitere Fragen aufgeworfen, denen auch zukünftig von wissenschaftlicher Seite noch nachgegangen werden muss. Die Einbindung gesellschaftlicher Akteure in den Forschungsprozess scheint dabei ein vielversprechender Ansatz.
Auch wenn Deutschland den Atomausstieg beschlossen habe, seien der Erhalt und der Ausbau wissenschaftlicher Kompetenz für die Endlagerung von großer Bedeutung, sagt Achim Brunnengräber. Denn es sind die kommenden Generationen, die den hochradioaktiven Müll möglichst sicher einlagern und den Weg dorthin immer wieder neu überprüfen müssen.
Sven Lebort