Biodiversität: Wir vernichten unser natürliches Kapital
Weltweit schwindet die Artenvielfalt, das sechste Massenaussterben ist in vollem Gange – höchste Zeit für engagierten Naturschutz. Ein Gastkommentar.
Wenn wir heute vom Schutz der Biodiversität reden, dann verdanken wir dies nicht zuletzt dem amerikanischen Natur- und Ameisenforscher Edward Wilson. Den Regenwald aus Gewinnsucht abzuholzen sei so schlau, wie ein Renaissance-Gemälde zu verbrennen, um sich auf dem Feuer eine Suppe zu kochen, hat er einmal gesagt. Seit Ende der 1980er Jahre verschafft der nimmermüde Umweltschützer dem von ihm durch das Zusammenziehen von „biological diversity“ geprägten Begriff immer mehr Gehör und Gewicht.
Bis heute schreibt Wilson, Jahrgang 1929, beinahe jedes Jahr ein neues Buch über sein Thema – aktuell ist es eine eloquente Absage an jene ahnungslosen „Anthropozän-Enthusiasten“, die ernsthaft glauben, eingeschleppte oder gar genetisch „wiederbelebte“ Arten könnten ausgestorbene Arten ersetzen. Oder die meinen, der Artenschwund sei halb so schlimm, da Städte (Berlin!) heute eine größere Artenvielfalt aufweisen als ausgeräumte Agrarlandschaften (Brandenburg!). Öko-Irrtümer blühen auch hierzulande reichlich.
Die Hälfte der Erde unter Schutz stellen, fordert Wilson
In seinem jüngsten Werk „Half-Earth. Our Planet’s Fight for Life“ (Live-right, W.W.Norton & Co., New York 2016) fordert Wilson, die Hälfte der Erde für den Naturschutz auszuweisen, wenn wir die biologische Vielfalt erhalten und ein apokalyptisches Artensterben aufhalten wollen. Bisher haben sich in der „Convention on Biological Diversity“ 196 Länder verpflichtet, immerhin 17 Prozent der Fläche an Land und 10 Prozent in den Ozeanen unter Schutz zu stellen. Doch ohne das Ziel einer halben Erde für den Artenschutz werde nach fünf erdgeschichtlich-natürlichen Massenaussterben ein Großteil der heutigen Tiere und Pflanzen einem sechsten, diesmal allein menschengemachten Exodus zum Opfer fallen, warnt Wilson. Und zwar innerhalb weniger kommender Jahrzehnte.
Ehrgeizige Ziele hat sich die Menschheit genug gesetzt, selten werden sie erreicht. Auf dem jüngsten Klimagipfel in Paris haben mehr als hundert Länder das 1,5-Grad-Ziel ausgerufen. Sie gehen damit über die zuvor angestrebten zwei Grad Maximalerwärmung hinaus, die man zum Schutz vor einem gefährlichen Klimawandel ausgehandelt hatte. Völlig offen bleibt jedoch, wie realistisch es ist, dieses Ziel zu erreichen.
Eine evolutionären Eintagsfliege namens Homo sapiens
Während derzeit alle nur vom Klimawandel reden, schwinden weltweit die Lebensräume und mit ihnen immer mehr Arten: vom Blauwal zum Bärtierchen, vom Tiger zum Tagpfauenauge, vom Hai bis zur Hummel. Die sich weiterhin exponentiell fortpflanzende Menschheit hat insbesondere im 20. Jahrhundert die Zerstörung ihrer natürlichen Umwelt höchst wirkungsvoll vorangetrieben – allerorten Fragmentierung und Verlust von Habitaten, Verschmutzung und Gifte, Überfischung, Wilderei, eingeschleppte Arten.
Lässt sich eine globale Umweltkrise überhaupt noch abwenden? Angesichts des tief eingeprägten ökologischen Egoismus dieser evolutionären Eintagsfliege namens Homo sapiens erscheint mir Wilsons Vorschlag einer „Half Earth“ für den Natur- und Artenschutz so naiv-utopisch wie verzweifelt. Prognosen gehen für das Ende dieses Jahrhunderts von zehn Milliarden Menschen aus. Wie soll deren Lebensstandard aussehen, was werden sie essen und trinken, wie werden sie wohnen? Angesichts unvermindertem Bevölkerungswachstum als Hauptursache weltweiter ökologischer Probleme und gleichzeitig steigendem Ressourcenverbrauch können wir nicht ernsthaft hoffen, dass sich Regenwälder und Riffe, Meere und Mangroven, Flüsse, Forste und Seen mit all ihren Bewohnern nachhaltig und in großem Stil werden schützen lassen.
Das Artensterben muss zuerst einmal in den Köpfen der Menschen und in der Politik ankommen
Um die weltweite Biodiversitätskrise zu bewältigen, muss das Artensterben zuerst einmal in den Köpfen der Menschen und in der Politik ankommen. Die aber sind vollauf mit dem eigenen kurzfristigen Überleben beschäftigt. Für nachhaltigen Naturschutz ist da kein Platz.
Nun sogar die eine Hälfte der Erde allen anderen Arten zu überlassen, das liegt wahrlich nicht in unserer Natur, die uns bereits seit Langem mehr als diesen einen Planeten überstrapazieren lässt. Es ist der einzige, den wir haben. Doch statt ihn zu schützen, verschwenden wir Milliarden für Missionen zum Mars, um nach Spuren historischen Wassers und Lebens zu suchen, dessen Vielfalt, Fülle und Faszination wir hier auf Erden ignorieren. Die Menschheit vernichtet ihr natürliches Kapital, die Biodiversitäts-Krise frisst ihre Kinder.
Der Autor ist Professor für Biodiversität der Tiere und Gründungsdirektor am Centrum für Naturkunde der Universität Hamburg.
Matthias Glaubrecht