Stalin-Kult in Georgien: "Wir müssen uns trauen, auch unangenehme Fragen zu stellen"
In der Ukraine wurde eine Lenin-Statur erst kürzlich vom Sockel gerissen. In Georgien soll nach nur drei Jahren eine Stalin-Statur wieder aufgestellt werden. Ein Interview über die Stalin-Verehrung mit dem georgischen Historiker Lasha Bakradze.
In Stalins Geburtsstadt Gori erlebt der Besucher ein bizarres Schauspiel. Stalin-Büsten, Stalin-Portraits, Stalin-Fotos. In diesem "Erinnerungsmuseum" werden weder Stalins Verbrechen noch die der kommunistischen Herrschaft ausführlich aufgearbeitet und thematisiert. Dabei wurden allein zwischen 1921 und 1941 72.000 Georgier erschossen und 200.000 deportiert. Wie beurteilen Sie als Historiker das aktuelle Verhältnis der Georgier zu der 70-jährigen sowjetischen Okkupation und Stalin selbst?
Ich glaube, zunächst muss man die kommunistische Ideologie bis zur georgischen Unabhängigkeit 1991 und die Stalin-Ära bis 1953 von einander trennen. Meiner Meinung nach hat die in Georgien sehr verbreitete Stalin-Verehrung weniger etwas mit einem nostalgischen Rückblick auf die Sowjetzeit und der kommunistischen Herrschaft zu tun als vielmehr mit der Tatsache, dass Stalin ein Georgier war. Das sind ganz primitive Gründe und Verhaltensweisen. Da müssen wir uns gar nichts vormachen. Er war ein starker Georgier, der über ein großes Reich herrschte. Für viele Georgier ist das immer noch ein Grund, stolz zu sein. Sogar die Georgier, die antikommunistisch und antisowjetisch eingestellt waren, haben Sympathien für ihn. Ich habe oft Georgier sagen hören, wir wurden von Stalin unterdrückt und geknechtet, aber zumindest hat er auch das restliche Imperium geknechtet. Das ist einer dieser idiotischen Gründe, warum die Menschen ihn heute immer noch verehren.
Können Sie konkrete Zahlen über die Stalin-Verehrung in Georgien nennen?
Im vergangenen Jahr wurde von der Carnegie Stiftung für internationalen Frieden eine soziologische Umfrage in Russland, Armenien, Aserbaidschan und in Georgien zur Einstellung gegenüber Stalin durchgeführt. In Georgien war das bisher die erste wissenschaftliche Untersuchung dieser Art überhaupt. Demnach haben 45 Prozent der Georgier eine positive Einstellung gegenüber Stalin, 69 Prozent bezeichnen ihn sogar als einen "weisen Anführer". Ich hatte erwartet, dass viele Menschen ihn immer noch sympathisch finden, aber ich hatte nicht erwartet, dass es mehr Georgier als Russen sind. Die Stalin-Verehrung in Russland von rund 28 Prozent hat aber andere Gründe, die zudem vom Putin-Regime sehr gefördert wird. Putin betrachtet Stalin als Hauptfigur der alten Sowjetunion, um den Mythos des starken Führers aufrecht zu erhalten. Für ihn ist das ein Mittel des eigenen Machterhalts.
Wie erklären Sie sich diese mehrheitlich positive Einstellung gegenüber Stalin in Georgien?
Die Georgier haben sich bisher nicht ernsthaft mit Stalins Verbrechen auseinandergesetzt. Es gibt so gut wie keine Bücher auf Georgisch, die Stalin als Massenmörder und seine Verbrechen behandeln. In der Schule lernen die Kinder nicht, was detailliert das Totalitäre an dem Stalin-System war. Dabei forcierte Stalin gerade hier in Georgien auf brutalste Weise die Sowjetisierung. Er wollte Moskau beweisen, er ist kein georgischer Patriot.
In Deutschland begann gleich nach dem Fall des Hitler-Regimes mit den Nürnberger Prozessen die Aufarbeitung des Naziregimes. In den 1960er Jahren fragten die Jungen die Alten, was habt ihr damals eigentlich getan. So etwas gab es weder in der Sowjetunion noch in Georgien nicht. In den 1990er Jahren hatten wir hier fundamentale Probleme. Für diese kritische Aufarbeitung war keine Zeit. Aber auch heute wollen sich immer noch nicht viele Menschen mit dieser traumatischen Stalin-Zeit auseinandersetzen. Es gibt viele Bücher darüber auf Russisch und in anderen Sprachen, aber eben nicht auf Georgisch. Es gibt dazu so wenig Literatur, dass es schon peinlich ist. Wenn an den Schulen, in den Universitäten und auch im Fernsehen ausführlicher über die Verbrechen informiert werden würde, wäre schon viel getan in diesem Land.
Direkt im Zentrum von Tiflis gibt es seit wenigen Jahren das "Museum der sowjetischen Okkupation". Ist dieses Museum, wenn es um eine kritische Auseinandersetzung mit der georgischen Geschichte geht, also nur ein Tropfen auf dem heißen Stein?
Absolut! Zudem findet in diesem Museum der Okkupationsgeschichte eine komplette Schwarz-Weiß-Malerei statt. Dafür habe ich das Museum auch schon mehrfach kritisiert. Schon der Name sagt ja, wir sind nur okkupiert worden. Das stimmt auch. 1921 wurde Georgien okkupiert und annektiert. Aber alles was danach kam wie die Kollaboration – darüber wird geschwiegen. Aber man kann der Sowjetzeit in Georgien nicht gerecht werden, wenn man sagt, wir sind nur okkupiert worden und ich habe meine Hände in Unschuld gewaschen. Dieses Museum wird der Realität nicht gerecht. Hier in Georgien waren 70 Jahre die Kommunisten an der Macht. Mit Ausnahme von wenigen Menschen haben die meisten mit ihnen kollaboriert. Eine Aufarbeitung wird nicht glücken, wenn wir Georgier uns nicht selbst kritisch fragen, warum das so war.
Sehen Sie dennoch Tendenzen einer schrittweisen Annäherung an dieses Thema?
Es scheint langsam ein Interesse daran zu geben. Vor allem auch in diesem Jahr, wo in verschiedenen Dörfern und Städten Stalin-Denkmäler wieder aufgetaucht sind. Ich habe selbst an mehreren Diskussionen dazu teilgenommen. Solche Debatten und Gesprächsrunden erlebe ich in dieser Form zum ersten Mal in Georgien. Ende der 1980er Jahre während der Perestroika wurde kurzzeitig schon einmal viel darüber geschrieben. Für viele waren das schockierende Geschichten. Mehr als zwanzig Jahre sind seit dem Zerfall der Sowjetunion vergangenen, vielen Menschen geht es langsam wirtschaftlich besser. Jetzt könnte die Zeit für die Aufarbeitung gekommen sein. Wir haben aber auch viel Zeit verloren. Heute leben nur noch sehr wenige Opfer und Täter, die über die Verbrechen in der Stalin-Ära sprechen können. Zusammen mit ein paar Mitstreitern habe ich deshalb die Gruppe "Topographie des Terrors" gegründet. Wir bieten Führungen zu Häusern hier in der Altstadt von Tiflis an, wo wir den Menschen erzählen, was unter der kommunistischen Herrschaft hinter diesen Fassaden passiert ist.
Wie zu besten Sowjetzeiten wird im Stalin-Museum in Gori mit diversen Exponaten an den Diktator erinnert. Was denken Sie über diese Art der Erinnerung?
Es ist ein schockierender Ort. Man überlegt schon seit Jahren, was man mit diesem Museum machen soll. Meiner Meinung nach gibt es jetzt unter der neuen Regierung tatsächlich den politischen Willen, etwas in Gori zu verändern. Im Kulturministerium wurde eine kleine Gruppe von Historikern und Ministeriumsmitarbeitern gegründet, die ernsthaft überlegt, was mit dem Stalin-Museum passieren soll. So grotesk dieses Museum auch ist, in der seit Jahrzehnten nicht veränderten Ausstellungsform ist es auch einmalig. Und diese Einmaligkeit muss bewahrt werden. Aber neben dieser primitiven, geschichtsfälschenden Stalin-Darstellung muss es in Zukunft auch eine parallele Ausstellung dazu geben. Es muss gezeigt werden, wie Geschichte zu Propagandazwecken genutzt wird. Wenn wir das schaffen, dann wird dieses Museum wirklich einmalig sein. Die internationalen Besucher werden auch weiterhin dorthin kommen, aber vor allem wird es eine Bildungsstätte für die Georgier sein.
In wenigen Tagen soll direkt vor dem Museum eine Stalin-Statur aufgebaut werden, die erst vor drei Jahren entfernt wurde. Wird ein in Stein gemeißelter Stalin bald wieder auf die Menschen in Gori hinunter schauen?
Die Statur wurde vor drei Jahren in einer Nacht- und Nebelaktion beseitigt. Ich war damals dagegen, weil ich der Meinung war, die Menschen müssten erst über Stalins Verbrechen aufgeklärt werden, weil sonst genau das passieren könnte, was jetzt droht. Nach drei Jahren wird Stalin aus irgendeiner dunklen Ecke wieder vorgekramt. Der jetzige Wiederaufbau wäre noch peinlicher, als wenn die Statur bis heute dort stehen geblieben wäre.
Ich hoffe dennoch, dass mehr und mehr Menschen beginnen werden, über die Rolle von Stalin und die Rolle der Georgier im Kommunismus zu diskutieren. Vor allem die jungen Leute müssen verstehen, aus welcher Realität wir kommen. In der Bevölkerung sind immer noch sehr stark die sowjetischen Verhaltensmuster wie Obrigkeitsdenken und Kritiklosigkeit verankert. Über viele Themen wird nach wie vor nicht gesprochen. Daran merkt man, wie viel Sowjetisches in den Köpfen noch vorhanden ist. Wenn wir uns damit nicht auseinandersetzen, werden diese Verhaltensweisen immer weiter fortgesetzt. Man darf vor diesen zum Teil traumatischen Geschichten nicht die Augen verschließen. Wir Georgier müssen uns trauen, auch unangenehme Fragen zur unserer jüngeren Geschichte zu stellen. Wir können nicht in die Zukunft gehen, wenn wir uns dieser Zeit nicht stellen.