Neue Wege für die Berliner Forschung: „Wir müssen Erkenntnisse in Produkte überführen“
Der Arzt und Wissenschaftler Erwin Böttinger ist aus New York nach Berlin gekommen. Ein Interview zu seinen Plänen, die Stadt als Medizinstandort international an die Spitze zu führen.
Herr Professor Böttinger, wie gefällt Ihnen Berlin, als ehemaligem New Yorker?
Berlin ist super. Ich habe mir auch andere Standorte in Europa angesehen, und Berlin war immer auf Platz eins. Die Stadt hat eine Dynamik entwickelt, die in vielen Ansätzen spürbar ist. Das ist faszinierend. Und aus New Yorker Perspektive macht der Metropolencharakter, den andere deutsche Städte so nicht haben, es attraktiver, hierherzukommen.
Was haben die Kollegen in den USA zu Ihrem Wechsel ans Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) gesagt?
Die fanden das toll, eine interessante, aber auch schwere Aufgabe. Und sie haben nach dem Budget gefragt, das auch für US-Verhältnisse gut ist ...
... und rund 300 Millionen Euro in den ersten fünf Jahren beträgt. In andere Zentren fließt jedoch weit mehr Geld. Laut Charité-Chef Einhäupl soll in Schweden für sieben Milliarden Euro ein Gesundheitsforschungszentrum entstehen, das Broad-Institut in Cambridge schöpft aus einem 800-Millionen-Dollar-Topf. Relativiert das die Konkurrenzfähigkeit des BIH?
Es kommt auf den Anspruch an, den man hat. Ich denke, dass Berlin gute Voraussetzungen hat, um in bestimmten Bereichen in die Spitzenforschung vordringen zu können. Außerdem sind die großen Zahlen nur bedingt vergleichbar. Man muss da schon genauer hinschauen: Was geht in Strukturaufbau; was in Versorgung; was geht real in die Forschung? Ich bin deshalb optimistisch, in die internationale Spitze vorzudringen zu können.
Welche Bereiche sind es denn, in denen das BIH Akzente setzen will?
Nach vier Wochen in Berlin kann ich noch nicht mit einer neuen Strategie für das BIH aufwarten. Es braucht Zeit, um mit den Einrichtungen das Konzept weiterzuentwickeln und Schwerpunkte zu setzen. Schließlich kann ich meine aus Amerika international geprägten Ideen nicht einfach eins zu eins umsetzen, ohne das Umfeld und die Anforderungen hier zu berücksichtigen. Aber es ist klar, dass es in Berlin Forscher mit Weltruf gibt. Mit dem Berliner Institut für Gesundheitsforschung wollen wir dazu noch viel mehr internationale Spitzenleute nach Berlin bringen.
Forscher mit Weltruf – zum Beispiel?
Ich will keine einzelnen hervorheben, bin aber sehr wohl schon im Dialog mit einigen international wahrgenommenen Gruppen, zum Beispiel in den Bereichen Stammzellen und regenerative Medizin, Systembiologie und Informatik.
Wo steht die Berliner Forschung, verglichen mit San Francisco, Boston oder New York?
In den etablierten Rankingsystemen hat Berlin noch keinen Spitzenrang. Aber das hat auch damit zu tun, dass Zentren im Ausland die Leistungen aller Einrichtungen eines Standorts zusammenfassen, während in Deutschland jedes Institut separat gewertet wird. Wenn Universitäten, Charité, außeruniversitäre Einrichtungen wie Helmholtz- und Max-Planck-Gesellschaft gemeinsam gewertet würden, käme auch international eine stärkere Position heraus.
Wenn sich die Institute die Lorbeeren gegenseitig streitig machen, warum noch ein weiteres Forschungszentrum? Kannibalisiert das BIH im Kampf um begrenzte Forschungsmittel die Forschung an den Universitäten und kleineren Instituten Berlins?
Nein. Im Gegenteil. Durch das BIH werden zusätzliche Mittel in den Standort Berlin fließen.
Die Erwartungen an das BIH sind groß und die erste Begutachtung ist schon 2017.
Die Erwartungen sind enorm. Aber ich denke, dass wir in einer guten Ausgangsposition für die Evaluierung sind. Ich bin optimistisch, dass wir uns in den nächsten Monaten, noch im ersten Quartal 2016, über die Kernthemen klar werden, auf die sich das BIH fokussieren will und die wir in den nächsten zehn Jahren an die Spitze bringen wollen.
Wollen Sie sich auf bestimmte Erkrankungen spezialisieren?
Das BIH ist kein Krebs- oder Herzkreislaufforschungsinstitut. Dafür gibt es in Deutschland bereits Zentren.. Wir wollen eine Infrastruktur schaffen, die es Forschern verschiedener Disziplinen ermöglicht, ihre Erkenntnisse in Anwendungen umzusetzen. Eine zentrale Aufgabe des BIH ist es, die Forschungssilos einzelner Institute aufzubrechen und vor allem durch Innovation und Digitalisierung stärkere Vernetzung zu ermöglichen.
Was verstehen Sie unter translationaler Forschung und wie lässt sich messen, ob sie erfolgreich ist?
Es gibt viele Interpretationen des Begriffs Translation. Ich bin sehr pragmatisch orientiert. Am Ende lautet die Aufgabe, etwas zu schaffen, was Gesundheit verbessert. Ausgangspunkt eines solchen Prozesses kann ein Top-Paper in einem hochklassigen Fachjournal sein. Aber das BIH sollte keine Einrichtung werden, die an „Nature“-Publikationen gemessen wird. Wir wollen Erkenntnisse in Patente und Produkte überführen, und zwar in Zusammenarbeit mit privaten Partnern.
Das bedeutet, dass Sie eng mit der Wirtschaft zusammenarbeiten müssen.
Auf jeden Fall. Es ist sicherlich illusorisch zu erwarten, dass ein BIH eigenständig Produkte entwickeln könnte. Dafür braucht man Partner aus der Industrie, sei es die Pharma-, die Medizintechnologie- oder die IT-Branche, und auch Risikokapitalgeber für Ausgründungen
Lassen sich die großen Durchbrüche mit großen Zentren erzwingen?
Nein. Wir können höchstens die Chance auf einen Durchbruch erhöhen, indem wir an einem Standort eine kritische Masse erzeugen, ein Ökosystem für Innovationen schaffen.
Haben Sie ein Vorbild für das BIH?
Eine Einrichtung wie das BIH, das Institutionen an einem Standort zusammenbringt mit dem Auftrag, ihn unter dem Fokus Translation voranzubringen – das gibt es kein zweites Mal auf der Welt. Aber natürlich gibt es Modelle, wie verschiedene Einrichtungen mit verschiedenen Kulturen zusammengeführt werden können. Da denke ich an das Broad-Institut in Boston, an dem klinische und Forschungseinrichtungen der Harvard-Universität und des Massachusetts Institute of Technology, zwei Top-Universitäten, beteiligt sind. Dort ist man sehr erfolgreich, weil man den Anspruch formuliert hat, eine Community zu schaffen. Und auch das BIG will zwischen verschiedenen Institutionen mit verschiedenen Kulturen eine Community schaffen, eine Translations-Community.
Gibt es andere Berliner Institute, die Sie in diese Gemeinschaft rechnen würden? Oder ist das ein Klub von Charité und MDC?
Als neuer Vorstandsvorsitzender würde ich als Leitfaden immer den Mehrwert für Berlin und Deutschland insgesamt sehen wollen. Das kann auch vielerlei Institute jenseits von Charité und MDC einschließen – öffentliche und private.