Roma: Wieder in Angst
In Ungarn werden Roma vielfach gedemütigt. Experten diskutieren über historische und soziologische Hintergründe.
Ungarn, das war vor mehr als 20 Jahren das Land, das den Eisernen Vorhang als Erstes durchschnitt. Die Nachrichten aus Ungarn heute handeln von neu aufkeimendem Antisemitismus, von Roma, die verfolgt, gedemütigt und sogar ermordet werden, von einer Regierung, die kritische Medien mundtot macht, und einer Rechtspartei, die viel tut, um als faschistische Wiedergängerin zu erscheinen.
Eine Tagung an der TU Berlin widmete sich jetzt den historischen und soziologischen Hintergründen dieser Entwicklung. Dabei kam heraus, dass vor allem der Hass auf die Juden und der gegen die Roma dank eines „Defizits der ungarischen Demokratie“ überlebt, wie es die Budapester Ethnologin Margit Feischmidt nennt. In den Vorträgen der Philosophin Ágnes Heller, und des Historikers Krisztian Ungváry entstand das Bild einer Gesellschaft, in der das Gefühl, selbst Opfer zu sein, Ungeheuer gebiert, und die von simplen Freund-Feind-Schemata blockiert ist. Der Feind ist das imaginierte Fremde, heute unter anderem EU-Europa.
Im 19. Jahrhundert, so Heller, waren es wie überall in Europa die Juden – mit der Ausnahme, dass es anders als in Frankreich und Deutschland keinen linken Antisemitismus gegeben habe. Erst seit dem Trianon-Vertrag von 1920, der Ungarn zwei Drittel des Staatsgebiets kostete, nationales „Trauma und Neurose“ (Ungváry), seien sie Schritt für Schritt zu universellen Sündenböcken gemacht worden. Eichmann, der Organisator des Holocaust, zeigte sich noch in seinem Prozess in Jerusalem entzückt über die effiziente ungarische Organisation der Deportationen. Doch in den Reden des Ministerpräsidenten Viktor Orbán verwandeln sich die willigen Helfer von damals in Ohnmächtige: „Wir konnten unsere Mitbürger nicht schützen.“ Der Budapester Gedenkort „Haus des Terrors“ ehrt Antisemiten als Helden des Widerstands, auch den Vater der ungarischen Judengesetze.
Die Jobbik-Partei, die „erfolgreichste Partei der Rechtsextremen in Europa“, sagt der Journalist Keno Verseck, habe ihren Antisemitismus zur Israelfeindschaft modernisiert. Und sie pflege einen Antiziganismus, der wie der Rest ihres ideologischen Baukastens – Jobbik ist gegen die EU, für die Todesstrafe, sogar gegen die Demokratie – immer schärfere Kanten bekomme. Inzwischen nenne sie offen alle Roma kriminell und habe kürzlich Geburtenkontrolle für Roma gefordert, auch dies mit einem Opferargument: Deren Geburtenrate mache den Sozialstaat kaputt. Ihr parlamentarischer Erfolg – in neueren Umfragen liegt Jobbik bei etwa 17 Prozent – habe sie nicht besänftigt, sondern sogar radikalisiert. Die regierende Fidesz-Partei treibe sie so vor sich her, immer weiter nach rechts.
Die Tagungsteilnehmer schauen am Ende auf ein trauriges Panorama: Eine rassistische Partei „der gut Gebildeten“, (Verseck), die zu 40 Prozent von jungen Leuten gewählt wird. Und regierungsfromme Medien, die Rassismus salonfähig machten. Die Journalistin Julia Váradi nannte eine Debatte um den Pianisten und Weltstar Ándras Schiff, dem ein Rechtsradikaler den Tod gewünscht hatte, was im Radio ernsthaft als nicht antisemitisch kommentiert wurde.
Bleibt Hoffnung? Ja, sagt Ágnes Heller knapp. Es brauche „eine andere Jugendbewegung“. Krisztian Ungváry äußert – kaum hörbar ironisch – Optimismus. In 50 Jahren werde man es geschafft haben. „Warum sollten wir schneller sein als Deutschland?“ Deutschland habe sich bis in die 60er Jahre als Opfer gefühlt, von Alliierten, Bomben, Vertreibung. Erst die 68er-Bewegung habe das beendet.
Deutscher Selbstzufriedenheit hatte die Gastgeberin freilich schon zum Auftakt der Tagung einen Riegel vorgeschoben. Stefanie Schüler-Springorum, die Direktorin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU, erinnerte in ihrer Begrüßung an die Einweihung des Mahnmals für die ermordeten Sinti und Roma Ende Oktober. Noch während die Spitzen der deutschen Politik der Toten der NS-„Zigeuner“-Vernichtung gedachten, beschloss der Innenausschuss des Bundestags Maßnahmen gegen die Lebenden, die Visumpflicht für Serben und Mazedonier, weil sie das Asylrecht „missbrauchten“.
Es wurde später noch einmal ganz still im TU-Senatssaal, als es um die sechs Opfer einer Mordserie an Roma 2008 und 2009 ging. Mindestens einer der Mörder war einschlägig bekannt, blieb aber unbehelligt. Ein Zuschauer erinnert an die rechtsterroristischen Morde der NSU und nennt eine weitere Parallele: Auch Ungarns Polizei suchte die Täter im Umkreis der Opfer.
Unterdessen scheint Ungarns Zivilgesellschaft keine 50 Jahre mehr warten zu wollen. Váradi berichtet vom unabhängigen „Klub-Radio“, das dank der Spenden seiner halben Million Hörer überlebe. Die Ethnologin Feischmidt nennt die Roma-Arbeit der neoprotestantischen Kirchen. Hilfe von außen wäre eher Wasser auf die Mühlen der Scharfmacher, da ist man sich einig. Hilfreich wäre aber, wenn auch die deutschen Firmen, die in Ungarn Geschäfte machen, sich trauten, Werbung in regierungsfernen Medien zu schalten, sagte Julia Váradi. Das Mitgefühl Europas habe man ja. „Aber das hilft uns nicht sehr.“ Andrea Dernbach
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