Adoleszenzforschung: Wie frei war die Jugend in der DDR?
Nach Identität suchen, Grenzen austesten: In der DDR war Adoleszenz nicht vorgesehen. Der Staat mischte sich intensiv in das Leben ihrer jungen Bürger ein.
Gab es Adoleszenz in der DDR? Die Frage klingt zunächst kurios: Adoleszenz hängt mit Jugend zusammen, und Jugendliche gab es in der DDR millionenfach. Wie sollte da die Adoleszenz zweifelhaft sein? Tatsächlich aber ist eine Antwort auf die Frage nach Adoleszenz in der DDR ziemlich schwierig – und sie enthüllt die grundlegenden Überzeugungen der sozialistischen Gesellschaft zur Jugend. Erst dann lässt sich verstehen, warum sich die Staatsführung der DDR so intensiv einmischte in das Leben ihrer jungen Staatsbürger – bis hin zu den musikalischen und modischen Vorlieben.
Adoleszenz, das ist aus Sicht vieler Jugendforscher und auch in der Literaturwissenschaft die turbulente, zweifelnde, aufrührerische Seite der psychologischen Entwicklung eines Jugendlichen. Der Psychologe G. Stanley Hall prägte den Begriff der Adoleszenz zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Zur Definition griff Hall auf einen Terminus aus der deutschen Literaturgeschichte zurück: Adoleszenz, das sei der „storm and stress“ im Leben eines jungen Menschen – die Sturm-und-Drang-Phase. Noch in aktuellen Lehrbüchern zur Jugendpsychologie wird die Metapher von der Adoleszenz als individuelle Sturm-und-Drang-Phase benutzt.
Selbstbestimmte jugendliche Identitätssuche - das war nicht vorgesehen
In modernen westlichen Gesellschaften scheint selbstverständlich: Jugendliche begeben sich auf die Suche nach ihrer Identität. Sie suchen sich selbst und zugleich ihre Rolle innerhalb der sozialen Gemeinschaft. Die jungen Menschen nutzen die weitgehend ‚verantwortungslose’ Zeit vor dem Berufseinstieg oder vor der Familiengründung dazu, Grenzen auszutesten, Beziehungen einzugehen und wieder zu lösen, mehr über sich selbst zu erfahren und Pläne für die prinzipiell offene Zukunft zu schmieden. Dabei ist aber dieser „psychosoziale Möglichkeitsraum“, wie die Soziologin Vera King die Adoleszenz nennt, keineswegs in allen Gesellschaften gegeben. Stand den Jugendlichen in der DDR der „psychosoziale Möglichkeitsraum“ der Adoleszenz offen?
Die ideologischen Voraussetzungen in der DDR waren nicht günstig für selbstbestimmte jugendliche Identitätssuche. Die größte Zumutung erfuhr die Idee der Adoleszenz durch die Jugendweihe. Anders als der Name nahelegt, ging es bei dem Initiationsritus nicht darum, die Jugendlichen mit ihren für diese Lebensphase besonderen moralischen, sexuellen und politischen Fragen ernst zu nehmen. Im Gegenteil: Die Jugendweihe sollte die jungen DDR-Bürger im Alter von 14 Jahren in die Erwachsenengesellschaft einführen; in der Feierstunde gelobten die Jugendlichen, fortan „würdige Mitglieder der sozialistischen Gemeinschaft zu sein“. In der Erinnerung an ihre eigene Jugendweihe wunderte sich die DDR-Leichtathletin Monika Zehrt später am meisten darüber, „dass man plötzlich erwachsen sein soll. So auf einmal, meine ich“. Die Jugendweihe in der DDR war ein Frontalangriff auf die jugendliche Suche nach Eigenständigkeit.
Eine Art sozialistische Adoleszenztheorie
Aber die Jugendpolitik der DDR kannte auch andere Stimmen – prominente Fürsprecher einer genau entgegengesetzten Überzeugung. Walter Friedrich, langjähriger Leiter des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig, veröffentlichte 1962 zusammen mit seinem Kollegen Adolf Kossakowski das Buch „Zur Psychologie des Jugendalters“. Es ist der Versuch, jugendliches Autonomiestreben als wichtiges Element einer sozialistischen Gesellschaft anzuerkennen – eine Art sozialistische Adoleszenztheorie. Friedrich und Kossakowski wenden sich dabei scharf gegen Überzeugungen Eduard Sprangers und anderer ihres Erachtens „reaktionärer“ Pädagogen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Vorwurf lautet, Spranger und andere hätten die jugendliche „Grübelsucht“ und „Wildheit“, das „Idealstreben“ der Jugendlichen als Privileg einer bestimmten sozialen Klasse zu etablieren versucht: der Angehörigen des gehobenen Bürgertums.
Noch bis in die Gegenwart hinein wird der „psychosoziale Möglichkeitsraum“ der Adoleszenz häufig eher den Sprösslingen aus wohlhabenden bildungsbürgerlichen Familien zugestanden; lange wurden auch Mädchen und junge Frauen vom ‚Privileg’ der Adoleszenz ausgeschlossen – zumindest theoretisch. Nur männliche Bildungsbürger hätten, so das Argument, die Zeit und die kulturellen Ressourcen, um überhaupt grundlegende moralische und soziale Fragen zu stellen. Weithin wirksam ist hier eine Behauptung des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, nach der ein „junger Arbeiter eine Adoleszenz gar nicht erst hat“. Der Literaturwissenschaftler Carsten Gansel meint, „dass es Adoleszenz im modernen bürgerlichen Sinne in der DDR so nicht gab“.
Friedrich und Kossakowski verteidigen das Recht des jugendlichen Arbeiters, sein Recht darauf, nachzudenken und Normen zu hinterfragen. Ihr Credo: Auch im Arbeiter-und-Bauern-Staat können die Jugendlichen ein vertieftes Bewusstsein über sich selbst und über die sie umgebende Gesellschaft erlangen. Zweifellos ist es den Jugendforschern wichtig, dass die Jugendlichen am Ende ihrer Identitätssuche überzeugte sozialistische Staatsbürger sind; aber Friedrich und Kossakowski trauen den jungen Menschen in der DDR zu, den Weg dorthin selbst zu finden.
Ein Slogan, um DDR-Jugendlichen das Twist-Tanzen zu erlauben
Dieses Zutrauen der staatlichen Institutionen zu den jungen DDR-Bürgern stand allerdings auf sehr wackeligen Füßen. Ein Dokument der Einhegung jugendlicher Sinnsuche ist bezeichnenderweise das Jugendkommuniqué mit dem Titel „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“ aus dem Jahr 1963. Junge engagierte Parteigenossen, darunter die Schriftstellerin Brigitte Reimann, verfolgten beste Absichten mit dieser Denkschrift: Es ging darum, den Jugendlichen des Landes größere Freiheiten in der Gestaltung ihres Alltags einzuräumen. Berühmt geworden ist der Leitsatz: „Welchen Takt die Jugend wählt, ist ihr überlassen, Hauptsache, sie bleibt taktvoll!“ Zunächst sollte dieser Slogan vor allem dazu dienen, den DDR-Jugendlichen das Twist-Tanzen zu erlauben. Spätere Jugendforscher in der DDR allerdings beriefen sich auf genau diese Devise, um damit ihr Ideal einer harmonischen und geradlinigen, eben einer nicht adoleszenten Entwicklung der Jugendlichen im Sozialismus zu verfechten: Die Jugendlichen sollten „taktvoll“, in gleichmäßigen, berechenbaren Schritten zu sozialistischen Persönlichkeiten heranwachsen.
Auf dem Gebiet der erzählenden Künste brachte der ideologische Kampf um die Adoleszenz ganz unterschiedliche Typen jugendlicher Helden hervor. Einer der bekanntesten Adoleszenten der deutschen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts ist ein DDR-Bürger: Edgar Wibeau aus dem Drama und Roman „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf. „Die neuen Leiden“ wurden in einer offiziellen Staats-Werbebroschüre mit dem Titel „DDR – Staat der Jugend“ im Jahr 1973 immerhin als eines der „interessantesten neuen Werke über Entwicklungsprobleme der Jugend“ gelobt – ein zwar verstecktes, aber doch eindeutiges Bekenntnis zur Adoleszenz in der DDR.
Verbindliche Lektüre: "Den Wolken ein Stück näher"
Fast zeitgleich aber erschien mit Günter Görlichs Roman „Den Wolken ein Stück näher“ ein literarischer Text, in dem die konfliktreiche Identitätssuche junger Menschen geradezu diskriminiert wird: Der Ich-Erzähler des Romans, der 14-jährige Klaus Herper, ist von Beginn an ein fertiger Charakter, souverän und abgeklärt, sogar den erwachsenen Mitstreitern an Weitsicht überlegen. Klaus’ Mitschüler Heinz Mateja hingegen ist leicht reizbar, nachdenklich, unsicher über seinen Platz in der Schulgemeinschaft. Klaus Herper, intendierte Identifikationsfigur des Romans, hat für solche adoleszenten Irrwege kein Verständnis; er sieht sie als Zeit- und Energieverschwendung an. „Den Wolken ein Stück näher“ war noch in den 1980er Jahren verbindliche Schullektüre in den 8. Klassen der DDR-Oberschulen.
Und die Jugendlichen selbst? Erlebten sie ihr Erwachsenwerden im sozialistischen Deutschland als Sturm-und-Drang-Phase, oder verlief ihre Entwicklung weitgehend unaufgeregt und ohne größere psychische und gesellschaftliche Turbulenzen? Auch wenn die Voraussetzungen für die selbstständige Identitätssuche oft nicht günstig waren, zeugen doch einige zeitgenössische Dokumente von Adoleszenz unter den jungen DDR-Bürgern. In Maxie Wanders „Guten Morgen, du Schöne“, einer literarisch-journalistischen Sammlung von Frauenporträts, äußert etwa die 16-jährige Susanne Allmachtsfantasien, die für die Adoleszenz typisch sind. Und sie stellt fest: „Ich hab’s heut nicht leicht mit meinem Charakter.“
DDR-Hippies mit sozialistischen Überzeugungen
Andere Selbstaussagen, etwa von Mitgliedern der Blueser- und Hippieszene in der DDR, klingen dagegen teilweise anders. Nicht wenige DDR-Hippies konnten völlig problemlos ihr Leben in der staatsfernen Gemeinschaft mit ihrer sozialistischen Überzeugung verbinden: Sie hatten ihre Identität bereits gefunden. Auch in dieser Szene gab es Suchende, teilweise verzweifelt Suchende; in den autobiografischen Rückblicken wird dies aber oft nur angedeutet.
Der Begriff „Adoleszenz“ war in der DDR nicht gebräuchlich. Aber die Diskussion um Adoleszenz wurde in der DDR sehr intensiv geführt. Sie war offenbar nötig. Und dass die Diskussion nötig war, zeigt: Adoleszenz gab es auch in der DDR.
Die Dissertation des Autors „Der Adoleszenzdiskurs in der DDR. Staatliche Programme, Jugendforschung, Lebensalltag, erzählende Künste“ ist erschienen im Weidler Buchverlag Berlin.
Florian Urschel-Sochaczewski