Zöliakie und Reizdarm-Syndrom: Wie eine glutenfreie Ernährung auch Reizdarmpatienten helfen kann
Glutenfrei lebt es sich gesünder, meinen viele Ernährungsapostel. Dabei ist die Diät schwer einzuhalten und tut nicht jedem gut. Jeder fünfte Reizdarmpatient könnte aber von einer glutenfreien Ernährung profitieren.
Lady Gaga und Gwyneth Paltrow schwören darauf. In den USA soll die Ernährungsmode inzwischen 60 Millionen Anhänger haben: Wenn sie überhaupt Brot, Kuchen, Nudeln, Müsli oder Pizza essen, müssen die Produkte glutenfrei sein. Zu erkennen ist das auf den Verpackungen an einer durchgestrichenen Kornähre. Leicht einzuhalten ist eine solche Ernährungsweise nicht, denn Gluten ist unter anderem in Getreidesorten wie Weizen, Roggen, Gerste und Dinkel enthalten. Als Klebereiweiß sorgt es außerdem dafür, dass sich das aus ihnen gewonnene Mehl gut backen lässt und dass die Brötchen knusprig werden.
Einer kleinen Gruppe von Menschen – etwa 0,5 bis ein Prozent der Bevölkerung – bleibt gar nichts anderes übrig, als auf glutenhaltiges Essen zu verzichten. Für sie ist das Eiweiß wirklich Teufelszeug, denn sie leiden an einer Zöliakie. Die Krankheit mit dem griechischen Namen (von koiliakós, vom Bauch herrührend) spielt sich im Dünndarm ab. Dort führt der Getreidebestandteil zu Entzündungen, die schließlich die Schleimhaut verändern: Sie verliert die Zotten, also charakteristische Ausstülpungen, die sie zur Aufnahme von Nährstoffen braucht. Die Verdauung wird weniger effizient.
Die Folgen: Blähungen und Bauchschmerzen, weil sich weiter unten, im Dickdarm, Bakterien über die Nährstoffe hermachen und bei ihrer Energiegewinnung Gas produzieren. Durchfall, weil die unverdauten Nahrungsbestandteile Wasser binden. Nicht zuletzt nehmen die Betroffenen ab, leiden unter Vitamin- und Eisenmangel, manchmal werden sogar ihre Knochen brüchig. Da oft lange nicht erkannt wird, was sich hinter den Symptomen verbirgt, und da die Zöliakie manchmal „still“ verläuft, nennen Magen-Darm-Spezialisten das Leiden auch die „Chamäleon-Krankheit“.
Früher hielt man sie für eine Krankheit von Kindern und Jugendlichen. Inzwischen ist klar, dass sich eine Zöliakie nicht selten erst in mittleren Jahren bemerkbar macht. „Wir gehen davon aus, dass bei entsprechender Veranlagung schon banale Magen-Darm-Infekte als Trigger wirken können, weil sie die Barriere des Darms beschädigen“, sagt Zöliakie-Forscher Michael Schumann von der Klinik für Gastroenterologie der Charité.
Da sich bei der Zöliakie das Immunsystem gegen eigene Strukturen richtet und Antikörper bildet, lässt sich der Verdacht durch einen Bluttest bestätigen. „Zur Komplettierung der Diagnostik machen wir eine Magenspiegelung. Dabei entnehmen wir auch Gewebeproben aus dem Dünndarm, die der Pathologe dann unter dem Mikroskop beurteilt“, sagt Schumann. So können die Ärzte feststellen, wie sehr sich die Schleimhaut schon verändert hat.
Steht die Diagnose, ist die Empfehlung einfach: Gluten muss komplett vom Speisezettel gestrichen werden, schon kleinste Mengen können Rückfälle verursachen. So haben Betroffene leidvolle Erfahrungen mit (an sich glutenfreien) Haferflocken gemacht, die aus Mühlen stammten, in denen zuvor andere Getreide gemahlen wurden. Reis und Mais, Fleisch und Fisch, Obst, Gemüse, Milchprodukte und Eier bleiben die verträglichen Pfeiler im Speiseplan der Betroffenen. Den Brotkorb können sie dagegen nicht mit Familie und Freunden teilen, sofern sich die der Diät nicht anschließen. Noch problematischer sind verarbeitete Nahrungsmittel und Restaurantbesuche.
„Bisher spricht nichts dafür, dass man eine allgemeine Empfehlung für glutenfreie Ernährung aussprechen sollte“, sagt Schumanns Kollege Reiner Ullrich. Allerdings mehren sich Hinweise darauf, dass es einigen Menschen mit Reizdarm-Syndrom helfen könnte, wenn sie auf Gluten verzichten.
Ullrich ist dem Phänomen schon seit einigen Jahren auf der Spur. Inzwischen sind die Hinweise aus der Genetik präziser geworden: So ist bekannt, dass 95 Prozent der Zöliakie-Patienten eine besondere Form des Gens HLA-DQ2 tragen, in der Allgemeinbevölkerung sind es dagegen nur 25 Prozent. Die HLA-DQ2-Variante ist unter anderem dafür zuständig, dem Immunsystem Fragmente des Glutens zu präsentieren und eine entzündliche Zellantwort auszulösen. Unter Reizdarm-Patienten seien es immerhin 35 Prozent, berichtet Ullrich. Zumindest bei einigen von ihnen könnte es also eine Empfindlichkeit gegenüber Gluten geben – ohne dass sich deshalb wie bei einer Zöliakie die Architektur des Darms verändert.
Die Diagnose „Reizdarm“ ist häufig, sie fasst heute Symptome wie Bauchschmerzen, Blähungen, Durchfall, Verstopfung und Wechsel zwischen beidem zusammen, sofern keine andere Ursache für die Beschwerden gefunden werden konnte. In einer Charité-Studie, die vor kurzem gestartet ist, sollen insgesamt 150 Patienten mit dieser Diagnose teilnehmen, die nachweislich nicht unter einer Zöliakie leiden. Sie verpflichten sich dazu, sich vier Monate lang strikt glutenfrei zu ernähren. Wie das geht, wird ihnen zuvor in einem ausführlichen Beratungsgespräch erläutert.
Während der Diät-Monate werden die Studienteilnehmer jede Woche zu ihrem Befinden befragt, um den Erfolg der Diät zu überprüfen. Erst am Ende wird ermittelt, wer von ihnen Träger der genetischen Veränderung ist – und ob sich die Vermutung bestätigt, dass dieser Gruppe die Diät geholfen hat. „Wir rechnen damit, dass jeder fünfte Patient mit Reizdarm von der glutenfreien Ernährung profitiert", sagt Ullrich. Sollte das stimmen, könnte man den Gentest künftig in die Reizdarm-Diagnostik aufnehmen. Die Studie wird zwar vom größten europäischen Hersteller glutenfreier Lebensmittel finanziert – sie dürfte aber trotzdem zeigen, wer von derartigen Produkten nicht profitiert.
Ob die Zöliakie und leichtere Formen der Gluten-Unverträglichkeit wirklich zunehmen, ist noch unklar. Möglicherweise werden sie nur häufiger erkannt. Eine weitere Hypothese ist, dass die verbesserte Hygiene zu mehr Erkrankungen geführt hat. Detlef Schuppan vom Zentrum für Zöliakie-Forschung an der Universität Mainz wiederum hat seit einigen Jahren den Verdacht, dass relativ moderne Getreidebestandteile im Spiel sein könnten, die nur in glutenhaltigen Sorten vorkommen: die Amylasetrypsininhibitoren, kurz ATI, die die Widerstandskraft von Zuchtpflanzen gegen Schädlinge erhöhen. Sie könnten das angeborene Immunsystem stimulieren und Entzündungsreaktionen anstoßen, vermutet Schuppan. Im letzten Jahr konnte seine Arbeitsgruppe das im Labor und im Tierversuch zeigen, die Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftler im Fachblatt „Journal of Experimental Medicine“.
In der Forschung sind noch zahlreiche Fragen zu Zöliakie und anderen Ursachen der Gluten-Unverträglichkeit offen. Wenn man unter Reizdarm leidet, könnte sich ein Versuch mit glutenfreier Diät aber lohnen, meint Ullrich: „Am besten nach ärztlicher Beratung, weil die Diagnose vorher geklärt sein sollte. Außerdem ist die Diät nicht einfach einzuhalten.“ Der Glutenverzicht wird aber höchstens indirekt zur „neuen hippen Abnehmstrategie“, als die Lady Gaga ihn anpreist: Weil man bewusster einkauft – und weil man dabei mehr Geld ausgibt.
Mehr zur Studie im Internet unter der Adresse http://reizdarmstudie.charite.de
oder telefonisch unter 030- 8445-2395.
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