zum Hauptinhalt
Alkohol ist in der Gesellschaft weitaus anerkannter als andere Drogen. Dennoch: Jährlich sterben dadurch 2,5 Millionen Menschen.
© Stephen Wood/Science Photo Libra

Rausch ohne Reue: Wie eine Alternative zu Alkohol Leben retten könnte

2,5 Millionen Menschen sterben jedes Jahr durch Alkohol. Ein britischer Forscher möchte eine Ersatzdroge entwickeln, die weniger giftig ist. Eine Substanz hat er bereits getestet.

David Nutt sieht nicht aus wie ein gefährlicher Mann. Er ist 62 Jahre alt, ein bisschen rundlich, lächelt viel und trägt einen Schnauzbart. Er könnte einer von tausenden Londoner Taxifahrern sein. Doch Nutt ist Forscher, ehemals oberster Drogenberater der britischen Regierung, und er arbeitet daran, eine neue Droge zu entwickeln. Millionen Menschen werden sie eines Tages nehmen, hofft er.

Die Substanz soll eine Alternative zu Alkohol sein. Genauso berauschend, aber weniger giftig. Und sie soll ein Gegenmittel haben, so dass Menschen von einem Moment zum anderen ausnüchtern und nach Hause fahren können. „Wir wissen, dass Menschen Alkohol mögen, sie mögen die Entspannung, sie mögen das Gefühl, betrunken zu sein“, sagt Nutt. „Warum ermöglichen wir ihnen nicht, das mit einer Droge zu tun, die nicht ihre Leber oder ihr Herz zerstört?“

Als Nutt die Idee Ende des vergangenen Jahres in einer britischen Radio-Talkshow vorstellte, waren viele Menschen begeistert. Andere waren entsetzt. Hier werde lediglich „eine süchtig machende Substanz gegen eine andere ausgetauscht“, kritisierte die Sprecherin einer Hilfsorganisation, die Alkoholsüchtige unterstützt. Zeitungen verglichen Nutts synthetische Droge mit Soma, der beglückenden Substanz in Aldous Huxleys „schöner neuer Welt“. Und in manchen Kommentarspalten hat ihm seine Arbeit den Beinamen „der gefährliche Professor“ eingebracht.

Warum die Gesellschaft bestimmte Formen riskanten Verhaltens akzeptiert

Nutt ist solche Kontroversen gewöhnt. 2009 veröffentlichte er im „Journal of Psychopharmacology“ eine Studie, die die Risiken von Ecstasy-Konsum mit denen des Reitens verglich. Etwa eine von zehntausend Ecstasy-Pillen füge jemandem schweren Schaden zu, berechnete Nutt. Im Reitsport komme es ungefähr alle 350 Stunden zu einem ernsthaften Unfall. Der Sport sei also gefährlicher als die notorische Partydroge, schloss Nutt: „Das wirft die entscheidende Frage auf, weshalb die Gesellschaft bestimmte Formen riskanten Verhaltens akzeptiert – sogar unterstützt – andere, wie Drogenkonsum, aber nicht.“

Politiker mögen solche Vergleiche nicht. In seinem Buch „Drogen – ohne die heiße Luft“ beschreibt Nutt ein Telefongespräch mit der britischen Innenministerin Jacqui Smith (sie sagt, es handele sich um eine „ausgeschmückte Version“ des Telefonats):

Smith: „Sie können die Gefahren einer illegalen Aktivität nicht mit den Gefahren einer legalen Aktivität vergleichen.“

Nutt: „Warum nicht?“

„Weil die eine illegal ist.“

„Aber warum ist sie illegal?“

„Weil sie gefährlich ist.“

„Müssen wir nicht die Gefahren vergleichen, um zu entscheiden, ob sie illegal sein sollte?“

„Sie können die Gefahren einer illegalen Aktivität nicht mit den Gefahren einer legalen Aktivität vergleichen.“

Diese Art von Zirkelschluss tauche immer wieder auf, wenn er mit Politikern über Drogen spreche, sagt Nutt. „In der Psychiatrie nennt man so etwas Spaltung: diese primitive, kindische Art zu denken, dass Dinge entweder gut oder schlecht sind.“

Nutts unverblümte Äußerungen bringen ihn immer wieder in Schwierigkeiten. 2009 erhöhte das britische Innenministerium die Höchsstrafe für Cannabisbesitz von zwei Jahren Gefängnis auf fünf. Nutts Beratungsgremium war dagegen. Als er die Entscheidung öffentlich kritisierte, wurde Nutt gefeuert – und über Nacht berühmt. Mehrere Wissenschaftler verließen das Beratungsgremium aus Protest. Nutt gründete ein unabhängiges Gegenstück.

Politische Entscheidungen zu Drogen basierten häufig auf dem moralischen Urteil, dass Menschen keine Drogen nehmen sollten, sagt er. Dabei sollte die Politik sich an dem orientieren, was die Wissenschaft über Drogen und ihre Auswirkungen weiß – etwa, dass viele illegale Drogen weniger schädlich sind als legale Substanzen wie Alkohol.

Warum Alkohol so stark wirkt - und wie die Ersatzdroge zusammengesetzt ist

In westlichen Gesellschaften wird Alkohol meist als „gute“ Droge wahrgenommen. Die Substanz ist als gesellschaftliches Gleitmittel akzeptiert. Jeder Erwachsene kann sie im Supermarkt in unbegrenzten Mengen kaufen. Auf Empfängen diskutiert man gerne bei einem Glas Rotwein, wie viel Alkohol denn am gesündesten ist. Dabei legen neuere Studien nahe, dass auch geringe Mengen Alkohol für die meisten Menschen schädlich sind. Und selbst wenn ein Glas Rotwein am Tag das Risiko eines Herztods verringern sollte, liegt das möglicherweise an anderen Inhaltsstoffen als dem Alkohol.

2010 publizierte Nutt im Journal „Lancet“ eine Studie, in der er Drogen nach dem Schaden einstufte, die sie dem Individuum (zum Beispiel Tod durch Überdosis) oder der Gesellschaft (etwa Drogenkriminalität) zufügen. Am Ende erhielt jede Droge einen Wert zwischen 0 und 100. Alkohol landete an der Spitze, vor Heroin. Psychedelische Pilze und Ecstasy fanden sich am unteren Ende der Skala.

Kritiker monierten, die Studie beachte weder das Zusammenspiel verschiedener Drogen noch ihren sozialen Kontext. „Wie viele Menschen durch Alkoholkonsum sterben, hängt zum Beispiel auch von den Waffengesetzen eines Landes ab“, sagt Jonathan Caulkins, der an der Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh Drogengesetzgebung erforscht. Die Vorstellung, man könnte den Schaden einer Droge in einer einzigen Zahl ausdrücken, findet Caulkins „lächerlich“. Das Ganze sei nicht mehr als eine „pseudowissenschaftliche Übung“.

Andere Forscher verteidigten die Studie. Nutts Ranking zu nutzen, „so fehlerhaft und begrenzt es auch sein mag, würde einen riesigen Schritt in Richtung einer evidenz-basierten, rationaleren Drogenpolitik in Kanada und anderswo bedeuten“, schrieben zwei kanadische Drogenforscher im Fachblatt „Addiction“.

2,5 Millionen Alkohol-Tote jährlich

Nutt selbst sieht solche Vergleiche als wichtige Voraussetzung für bessere Drogengesetze. Die sollten Schaden reduzieren anstatt zu moralisieren, sagt er. Neuseeland wage einen ersten Schritt in diese Richtung. Dort wurde 2013 ein Gesetz erlassen, dass neue Drogen künftig legal verkauft werden können, wenn sie Konsumenten einem „niedrigen Risiko“ aussetzen. Nutt, der die Regierung Neuseelands beraten hat, sagt, das größte Problem sei nun zu entscheiden, was „niedriges Risiko“ bedeute. Er habe vorgeschlagen, die Gefährlichkeit von Alkohol als Grenze zu nehmen. „Da haben sie gesagt: Oh Gott, das wäre viel zu gefährlich.“

Tatsächlich ist der Schaden enorm, den Alkohol anrichtet. Ethanol, so die wissenschaftliche Bezeichnung ist ein Zellgift, das zahlreiche Organe schädigt: Es greift die Schleimhäute an, beeinträchtigt Leber und Bauchspeicheldrüse, begünstigt Krebs und tötet Nervenzellen (siehe Grafik). „Wenn ich das Gehirn von Menschen mit Alkoholabhängigkeit scanne, sieht das häufig schlimmer aus als das von Alzheimerpatienten“, sagt Nutt.

Die Vereinten Nationen schätzen, dass jedes Jahr 2,5 Millionen Menschen durch Alkohol sterben. Jeder zehnte Verkehrstote in Deutschland ist auf Alkohol zurückzuführen. Fetales Alkoholsyndrom ist eine der häufigsten angeborenen Behinderungen. Hinzu kommt, dass viele Menschen von Alkohol abhängig werden. „Erst nimmst du einen Drink, dann nimmt der Drink einen Drink, dann nimmt der Drink dich“, schrieb der US-Schriftsteller Scott Fitzgerald, der selbst mit 44 Jahren an den Folgen seiner Alkoholsucht starb.

Eine Alternative zu Alkohol könnte helfen, den Schaden zu lindern, glaubt Nutt. Als Vorbild nennt er E-Zigaretten. Die könnten jedes Jahr fünf Millionen Menschenleben retten, mehr Menschen als an Aids, Malaria, Tuberkulose und Meningitis zusammen sterben, sagt Nutt: „Die E-Zigarette könnte die größte medizinische Erfindung seit der Impfung sein.“

Könnte eine Alkoholalternative Ähnliches schaffen? „Ich glaube, die Idee ist utopisch“, sagt Rainer Spanagel, Pharmakologe an der Universität Heidelberg. Ein Grund dafür: Ethanol wirkt im Gehirn auf sehr komplexe Art und Weise. Drogen beeinflussen die Botenstoffe im Gehirn. Morphin zum Beispiel bindet an den My-Opioidrezeptor und aktiviert ihn. Ketamin bindet an einen Rezeptor für den Botenstoff Glutamat und hemmt ihn. Die Moleküle schmiegen sich in eine natürliche Höhle des Rezeptors wie ein Schlüssel ins Schloss. Aber Ethanol ist so winzig, dass es in zahlreiche Taschen passt. Das Molekül ist wie ein Generalschlüssel, der zahlreiche Türen im Gehirn öffnet: Er beeinflusst Serotonin, Acetylcholin, GABA, NMDA. Eine Substanz zu finden, die die gewünschten Effekte nachahmt, aber die unerwünschten vermeidet, sei deshalb schwierig, sagt Spanagel.

Nutt konzentriert sich auf Botenstoff Gamma-Aminobuttersäure

Nutt konzentriert sich auf einen Botenstoff: Gamma-Aminobuttersäure, kurz: GABA. Das Molekül hemmt die Signalübertragung im Gehirn. Alkohol kopiert diese Funktion offenbar, und beruhigt so den Geist. Es ist dieser Zustand der Entspannung, den viele Menschen etwa mit einem Feierabendbier anstreben. Nutt hat Patente und wissenschaftliche Studien nach anderen Substanz durchforstet, die GABA-Rezeptoren aktivieren. In einem noch unveröffentlichen Bericht, der dem Tagesspiegel vorliegt, hat er mehrere Kandidaten ausgemacht. Einige der Stoffe wurden als Medikamente untersucht, aber fallen gelassen, weil sie alkoholähnliche Nebenwirkungen hatten. Nutt hat eine der Substanzen selbst getestet. Er habe sich angenehm entspannt und betrunken gefühlt, sagt er. „Dann habe ich das Gegenmittel genommen und einige Minuten später ohne irgendwelche Beeinträchtigungen einen Vortrag gehalten.“

Andreas Heinz von der Berliner Charité warnt, dass so eine Droge negative Folgen haben könnte. So könnte sich immer noch zeigen, dass sie süchtig macht oder bei einem kleinen Teil der Bevölkerung schwere Nebenwirkungen verursacht. „Es ist ein Vorteil, wenn Sie eine Droge seit hunderten Jahren kennen und genau wissen, was sie tut“, sagt Heinz.

Aber Nutt hat eine Reihe von Investoren gefunden, die seine Forschung unterstützen wollen, „von ukrainischen Brauern bis zu einem amerikanischen Hedgefonds“, sagt er. „Wir glauben, wir haben genug Geld, um eine Substanz auf den Markt zu bringen.“ Seine Universität, das Imperial College London, hilft ihm nun dabei, die Substanzen auf den Markt zu bringen. Schon in einem Jahr könnten erste Cocktails mit einem Alkoholersatz zu kaufen sein, hofft Nutt.

Doch selbst eine sichere Alternative zu Alkohol müsste hohe Hürden nehmen. Viele Menschen würden kaum auf Getränke wie Bier, Wein und Whiskey verzichten wollen, um auf eine neue Chemikalie umzusteigen, sagt Spanagel. Hinzu kommen zahlreiche politische Fragen, sagt Jürgen Rehm vom Zentrum für Suchtforschung in Toronto: „Wie würde man so eine neu Droge bewerten? Könnte man sie im Supermarkt kaufen? In der Apotheke? Würde die Gesellschaft sie akzeptieren?“

Was immer am Ende dabei herauskomme, Nutts Suche nach einem sichereren Drink habe die Art und Weise geändert, wie Menschen über Alkohol nachdenken, sagt Rehm. „Die Idee ist provokant im besten Sinne des Wortes“. Dasselbe könnte man über den Wissenschaftler sagen, der sie sich ausgedacht hat.

Kai Kupferschmidt

Zur Startseite