Kulturgeschichte eines Begriffs: Wie der Kiez erfunden wurde
Kiez klingt berlinerisch und historisch? Doch das stimmt gar nicht: Erst in den 1970ern deuteten West- und Ost-Berlin den Kiez zum urbanen Ort um..
Der Kiez ist heute überall. In den Straßen Berlins finden sich Kiez-Bäcker, Kiez-Buchhandlungen und Kiez-Pensionen. Hochglanzbroschüren werben für edle Wohnungen im Kiez, während auf den Berliner Fußballplätzen die nächsten Kiez-Helden gesucht werden. Kiez verspricht Zugehörigkeit und bietet Identifikation. Kein Wunder, dass die sanierten Berliner Altbauviertel als Bergmann-, Graefe-, Nord- oder Süd-Kiez bezeichnet werden. Das klingt gleichermaßen berlinerisch und historisch, so als ob es schon immer Kiez geheißen hätte. Dabei ist der Kiez im heutigen Sinne ein neuer Begriff, der erst seit den 1970er Jahren eine erstaunliche Verbreitung gefunden hat. Zuvor stand der Kietz (mit „tz“ geschrieben) jahrhundertelang für ärmliche Fischersiedlungen vor den Toren der Stadt. Die heutige Bedeutung des Begriffs, der nunmehr für Urbanität durch Gemeinschaft, Vielfalt und Dichte steht, ist kaum älter als vierzig Jahre.
Das Aufkommen des Kiezes geht einher mit einem umfassenden gesellschaftlichen Wandel in der Geschichte Berlins. Die Begriffsgeschichte des Kiezes ist daher nicht nur eine Anekdote, sondern ein Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte Berlins. Am Kiez-Begriff zeigt sich beispielhaft, wie neue soziale Prozesse neue Begrifflichkeiten hervorbrachten. Und man sieht, wie Begriffe ihrerseits auf die Gesellschaft zurückwirkten, indem sie Entwicklungen einen Namen gaben, Interessen zum Ausdruck brachten und somit selber handlungsleitend wurden.
Die Wiederentdeckung Berliner Altbauviertel
Im Kiez verdichtete sich die Wiederentdeckung der maroden Berliner Altbauviertel, die Raum für neue Wohn- und Lebensformen boten, während die Visionen der städtebaulichen Moderne zunehmend in die Krise gerieten. Als lokales Label trug der Begriff zur symbolischen und materiellen Aufwertung der Altbauten im Zuge der behutsamen Stadtentwicklung bei. Der Kiez machte somit Geschichte.
Diese Kiezgeschichte lässt sich in Ost und West beobachten. Die Wiederentdeckung der Altbauviertel in Ost- und West-Berlin ist damit ein Teil der „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“, die von dem Historiker Christoph Kleßmann am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) entwickelt wurde. Asymmetrisch ist die zeitlich versetzte Konjunktur des Kiez-Begriffs, die in West-Berlin bereits seit Mitte der 1970er Jahre einsetzte, während der Begriff in Ost-Berlin erst ein Jahrzehnt später auftauchte.
1987 schnellt der Begriff im Osten nach oben
1987 schnellte der Kiez-Begriff im Osten jedoch exponentiell nach oben, weil er im Zuge der 750-Jahr-Feier Berlins die Aneignung und Aufwertung der gründerzeitlichen Altbauviertel zum Ausdruck brachte. Mit der sanierten Husemannstraße in Prenzlauer Berg wollte das SED-Regime die behutsame Stadterneuerung im Rahmen der Internationalen Bauausstellung in Kreuzberg noch übertreffen. Die Feierkonkurrenz zwischen Ost und West wurde auch auf dem Gebiet der Stadtentwicklung ausgetragen, und die Aneignung derselben Begriffe ist typisch für diese Verflechtungsgeschichte.
Die versetzten Konjunkturen des Kiez-Begriffs in Ost und West lassen sich über neue Methoden und Werkzeuge der Digital History ermitteln. Hierzu zählt unter anderem das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS), das von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften betrieben wird. Es ermöglicht die gezielte Analyse von Worthäufigkeiten in ausgewählten Sammlungen von Texten. Auf diese Weise können Verlaufskurven erstellt werden, die die Konjunktur bestimmter Begriffe in der historischen Entwicklung eindrucksvoll darstellen.
Selbst Honecker sprach vom Kiez
Den wichtigsten Bestand für die Analyse des Sprachwandels im Osten bietet das DDR-Presseportal, das von der Staatsbibliothek zu Berlin in Zusammenarbeit mit dem ZZF aufgebaut wurde. Hierfür wurden sämtliche Ausgaben des „Neuen Deutschland“, der „Berliner Zeitung“ und der „Neuen Zeit“ eingescannt. Auf diese Weise ist ein unverzichtbares Werkzeug zur Erforschung der DDR-Geschichte entstanden, bei dem selbstverständlich in Rechnung gestellt werden muss, dass bei der Analyse der Zeitungssprache Vorsicht geboten ist, da die offizielle DDR-Presse nur einen bestimmten Ausschnitt der gesellschaftlichen Wirklichkeit erfasste und viele Aspekte verschwieg. Doch auch in der Offizialsprache der DDR verschoben sich die Grenzen dessen, was sagbar war. Sprachliche Tabus wurden gesetzt und wieder gelockert. Neue Begriffe kamen dazu.
Besonders eindrücklich zeigt sich das am Bespiel des Kiez-Begriffs. Während der Begriff jahrzehntelang so gut wie keine Erwähnung in der DDR-Presse fand, schnellte die Worthäufigkeit seit 1985 schlagartig nach oben, wobei 1987 zur 750-Jahr-Feier der deutlichste Anstieg zu beobachten ist.
Das DDR-Fernsehen machte den Begriff populär
Selbst Erich Honecker nahm 1987 bei einer offiziellen Rede den Begriff „Kiez“ in den Mund und versuchte dabei, ihn nicht nur für die modernisierten Altbauviertel in Mitte, Friedrichshain und Prenzlauer Berg, sondern auch für die großen Ost-Berliner Neubaugebiete in Marzahn, Hohenschönhausen und Hellersdorf geltend zu machen. Dieser Versuch, den Kiez-Begriff selbst für die neuen Großsiedlungen am Stadtrand anzuwenden, mag heute überraschend erscheinen, zeigt aber die Bedeutung, die Honecker bis zuletzt dem staatlichen Wohnungsbauprogramm beimaß, mit dem die DDR-Bürger sich und die SED identifizieren sollten. In diesem Sinne sollte der Kiez-Begriff in der späten DDR für Heimatidentifikation und Herrschaftslegitimation sorgen. Während der Glaube an den sozialistischen Fortschritt schwand, setzte die SED auf einen wohligen Begriff im historisierenden Gewand.
1987 trug auch das DDR-Fernsehen zur Popularisierung des Kiez-Begriffs bei. Von Oktober bis Dezember 1987 strahlte es die siebenteilige Fernsehserie „Kiez-Geschichten“ aus, in der eine Eberswalder Baubrigade ein typisches Alt-Berliner Mietshaus rekonstruiert. Dabei entspinnen sich allerlei humoristische Geschichten zwischen den Alten, die seit Jahrzehnten in dem Haus wohnen, und den Jungen, die sich an den Kiez gewöhnt haben und weiter dort wohnen bleiben möchten. Während ihr Viertel durch die komplexe Rekonstruktion baulich erhalten bleibt, wird es durch einen positiv konnotierten Kiez-Begriff symbolisch aufgewertet. Die DDR-Presse berichtete ausführlich über die „Kiez-Geschichten“ im Fernsehen und machte den Begriff auf diese Weise populär.
Vergnügungs-Kiez in Hamburg, Altbau-Kiez in Berlin
Die positive Umdeutung des Kiez-Begriffs war jedoch noch nicht abgeschlossen. Dass der Begriff auch ganz anders gebraucht werden konnte, zeigte die fünfteilige Reportage „Kreuzberger Tage“, die im November 1988 in der „Berliner Zeitung“ erschien. Darin berichtete der West-Berlin-Korrespondent der Ost-Berliner Bezirkszeitung in düsteren Farben vom Leben in Kreuzberg, das als „Kiez zwischen Wut und Hoffnung“ beschrieben wird. Die einzelnen Teile der Elendsreportage befassen sich mit Themen wie der Jugendarbeitslosigkeit, dem Drogenmilieu, Miethaien, Spiel- und Alkoholsucht, aber auch schon mit beginnenden Verdrängungsprozessen – freilich ohne dass bereits der Begriff Gentrifizierung fällt. Den Lesern der „Berliner Zeitung“ wird das klare Bild vermittelt, dass Kreuzberg die Schattenseite West-Berlins darstelle: „Hier ist nicht Kudamm, hier ist Kiez.“
Leider fehlen für West-Berlin vergleichbare digitale Textsammlungen wie das DDR-Presseportal. Einen Ausweg bietet bislang einzig die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“, die im DWDS verfügbar ist. Hier zeigt sich, dass die Konjunktur des Begriffs im Westen schon zehn Jahre früher einsetzte als in der DDR – also bereits mit dem Beginn der behutsamen Stadterneuerung im Denkmaljahr 1975. Damals wurden auch Begriffe wie „Kreuzberger Mischung“ erfunden, die ebenfalls für die Aufwertung der gründerzeitlichen Altbausubstanz standen und deren Erhalt propagierten. Seit Mitte der 1970er Jahre stieg die öffentliche Verwendung des Kiez-Begriffs deutlich an, wobei der Kontext in der „Zeit“ vom Hamburger Vergnügungs-Kiez bis hin zum Berliner Altbau-Kiez variierte. Doch auch hier dominierte zunehmend eine positive Bedeutung, die Kiez mit Urbanität im Sinne von Nachbarschaft und Gemeinschaft assoziiert.
Unklar ist, wie der Kiez-Begriff vom Westen in den Osten gelangte. Doch es liegt nahe, angesichts der zeitlichen Verzögerung der Begriffskonjunktur von einer sprachlichen Übernahme aus dem Westen auszugehen. Diese Annahme wird durch den historischen Kontext gestärkt, denn die Aneignung des Kiez-Begriffs korrespondierte mit der Aufwertung der Altbauviertel, die im Westen ebenfalls früher einsetzte und in der DDR sehr aufmerksam wahrgenommen wurde. Die komplexe Rekonstruktion im Osten orientierte sich an der kritischen Rekonstruktion im Westen der geteilten Stadt, wobei die Verantwortlichen der Internationalen Bauausstellung umgekehrt auch sehr genau die Ost-Berliner Pilotvorhaben am Arnim- und Arkonaplatz verfolgten.
Am Ende der Kiezgeschichte steht die Gentrifizierung
Gemeinsam war beiden Stadthälften die Rückkehr des Historischen, die in der Wiederentdeckung der Mietskaserne und in der Karriere des Kiezes zum Ausdruck kam. Kurz vor dem Fall der Mauer zeigte sich eine erstaunliche Konvergenz der urbanen Leitbilder und Leitbegriffe in Ost und West. Die heutige Verbreitung des Kiezes geht also zurück auf den städtebaulichen und begrifflichen Wandel vor 1989. Während der Kiez in den 1980er Jahren jedoch noch für die symbolische Aneignung der Altbauviertel stand, dient der Begriff inzwischen zunehmend der Vermarktung der durchsanierten Altbauwohnungen. Am Ende der Kiezgeschichte steht somit die heutige Gentrifizierung der Berliner Altbauquartiere.
Der Autor ist Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Der Beitrag basiert auf seinem Buch „Kiezgeschichte. Friedrichshain und Kreuzberg im geteilten Berlin“, das kürzlich im Wallstein Verlag erschienen ist.
Hanno Hochmuth