Körper und Seele: Wie der Geist entsteht
Das Geheimnis des Bewusstseins gilt vielen als das größte Rätsel überhaupt - als äußerste Grenze menschlichen Strebens nach Erkenntnis. Hirnforscher, Psychologen und Philosophen versuchen trotzdem, sich ihm zu nähern.
Fledermäuse beginnen in der Dämmerung ihren Flatterflug. Und Sie sind dabei. Sie sind eine Fledermaus. Sie steigen in den Himmel auf und kreisen über den Häusern, um ihre Beute zu orten. Nein, Sie sind nicht Batman. Sie sind eine echte Fledermaus. Sie haben ein Fledertier-Bewusstsein und ein Bio-Echolot, mit dem Sie Ihre Beute orten, Fliegen und andere Insekten, die durch die Abendluft treiben. Die Nacht werden Sie in Ihrem Versteck verbringen, kopfüber von der Gemäuerdecke hinabhängend.
Natürlich werden wir Menschen uns niemals wirklich in eine Fledermaus hineinversetzen können. Aber ein reizvolles Gedankenexperiment ist es trotzdem. Es stammt von dem amerikanischen Philosophen Thomas Nagel. 1974 veröffentlichte er den Aufsatz „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“. Der Essay sollte die aufstrebende Gilde der Hirnforscher provozieren. Schickte die sich doch an, seelische Prozesse mit den Mitteln der Naturwissenschaft aufzuklären. Dabei machten sie sich sogar daran, dem Bewusstsein selbst sein Geheimnis zu entreißen.
Ein vermessenes Unterfangen, wie Nagel meinte. Sein zentraler Gedanke: Jedes subjektive Phänomen, wie das Bewusstsein einer Fledermaus, ist mit einem einzigartigen Blickwinkel verknüpft. Es wäre unausweichlich, dass eine objektive physikalische Theorie diese wichtige Eigenschaft des Bewusstseins preisgeben würde. Damit würde das Wesentliche verloren gehen. Bewusstsein in diesem Sinn kann die Wissenschaft nicht verstehen, argumentierte Nagel. Genauso wenig, wie wir Menschen uns in Fledermäuse hineinversetzen können.
"Für jeden von uns ist Bewusstsein das Leben selbst"
Mehr als vier Jahrzehnte später hat Nagels Kritik weiterhin Gewicht. Noch immer debattieren Hirnforscher mit Philosophen, ob und wie objektive Methoden subjektive Erfahrungen widerspiegeln und erklären können. Und trotz mancher Fortschritte haben Neurowissenschaft und Psychologie das Rätsel des Bewusstseins noch immer nicht gelöst. Für manche ist es die größte aller Fragen. Das Problem des Bewusstseins verkörpere, zusammen mit der Frage nach der Entstehung des Universums, „die äußerste Grenze des menschlichen Strebens nach Erkenntnis“, schreibt der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger. Vielen erscheine es deshalb „als das letzte große Rätsel überhaupt“. Es berührt den Kern der menschlichen Existenz. „Für jeden von uns ist Bewusstsein das Leben selbst“, schreibt der Psychologe Steven Pinker. Es ist der Grund, warum das Leben lebenswert ist. Seine Essenz.
Die Probleme fangen schon bei der Frage an, was genau mit „Bewusstsein“ gemeint ist. Denn das Phänomen ist vielschichtig, der Begriff entzieht sich einer einfachen Definition. Umso erfreuter war die Gemeinde der Geist-Erforscher, als der Philosoph David Chalmers vor 20 Jahren etwas begriffliche Klarheit schuf. „Einfache Probleme“ drehen sich für Chalmers zum Beispiel darum, wie sich bewusste von unbewussten Hirnprozessen unterscheiden. Das „schwierige Problem“ ist dagegen eine echt harte Nuss: Wie entsteht aus Prozessen im Gehirn subjektive Wahrnehmung? Es geht nicht nur darum, die Farbe „Grün“ zu sehen (ein „einfaches Problem“), sondern um ihre Qualität, die Erfahrung des „Grünen“, wie der Psychologe Pinker das „schwierige Problem“ illustriert.
Eine grundsätzliche Frage lautet: Ist Bewusstsein an materielle Prozesse im Gehirn geknüpft? Oder gibt es eine Seele, die unabhängig von Nervenzellen agiert? Der berühmteste Vertreter dieser Annahme war der französische Philosoph René Descartes (1596 –1650). Er verkündete eine strikte Trennung von Geist und Körper, den Dualismus. Descartes’ Position hat zumindest in der Naturwissenschaft nur noch wenige Freunde. „In der Hirnforschung ist der Dualismus vollkommen out“, sagt John-Dylan Haynes, Leiter des Bernstein Center for Computational Neuroscience in Berlin.
Über den "Sitz" des Bewusstseins herrscht Einigkeit
Das Bewusstsein ist also ein Produkt des Gehirns, es entsteht und vergeht mit ihm. Was für Neurowissenschaftler eine weithin akzeptierte Tatsache und fast eine Binsenweisheit ist, wird manchem einen Schrecken einjagen. „Tut mir leid, aber Ihre Seele ist gerade gestorben“, lautet der sarkastische Titel eines Essays des Schriftstellers Tom Wolfe über die Fortschritte der Neurobiologie.
Wo „sitzt“ das Bewusstsein? Auch darüber herrscht unter Forschern weitgehend Einigkeit. Es wird in bestimmten Gebieten der Großhirnrinde vermutet. In dieser nur wenige Millimeter dicken und stammesgeschichtlich jungen „Deckschicht“ des Gehirns, wissenschaftlich als Cortex bezeichnet, ballen sich etwa 15 Milliarden Nervenzellen.
Kann eine Maschine ein Bewusstsein haben?
Man nimmt an, dass bewusstes Erleben in assoziativen Gebieten der Hirnrinde erzeugt wird. Sie liegen im Bereich des Stirnhirns und im vorderen Teil des Schläfenlappens. Assoziativ heißt, dass diese Areale nicht vorrangig mit dem Verarbeiten etwa von Signalen aus den Sinnesorganen betraut sind oder Nachrichten an die Muskulatur senden, sondern Informationen aus anderen Hirnzentren sammeln und zusammenfügen.
Ein unfassbar kompliziertes Netzwerk
Das bedeutet, dass Regionen unterhalb der Hirnrinde zwar „Informationen“ an die Bewusstseinszentren liefern können, aber selbst nicht zum Bewusstsein fähig sind. „Erst die genügend starke Aktivierung von assoziativen Cortexarealen führt zum bewussten Erleben“, schreibt Gerhard Roth, Hirnforscher und Buchautor („Wie das Gehirn die Seele macht“).
Nervenzellen, Neuronen, kommunizieren, indem sie „feuern“. Sie nehmen über ihre Fortsätze elektrisch übertragene Signale an oder leiten sie weiter. Mit seinen Billionen von Nervenzellkontakten ist die Hirnrinde ein unfassbar kompliziertes Netzwerk , in dem Informationen verarbeitet und gespeichert werden. Irgendwo in diesem Prozess von „feuernden“ Neuronen entsteht Bewusstsein.
Das wirft die Frage auf, ob Bewusstsein an das Gehirn als „natürlich entstandenes Informationsverarbeitungssystem“ (so der Philosoph Metzinger) gebunden ist. Ist es möglich, Bewusstsein nicht nur in einem „Computer aus Fleisch“, sondern in einem aus Kunststoff und Halbleitern zu erzeugen? Christof Koch, einer der profiliertesten Hirnforscher, bejaht diese Frage. Zumindest im Prinzip. Der Amerikaner, der das Allen-Institut für Hirnforschung in Seattle leitet, belebt damit den Panpsychismus wieder. Das ist jene romantische Vorstellung, nach der das ganze Universum beseelt ist. Ganz so umfassend ist Kochs Version der All-Seele jedoch nicht. Er vertritt die Ansicht, dass Bewusstsein eine grundlegende Eigenschaft komplexer Systeme ist.
Eine Voraussetzung: integrierte Information
Koch bezieht sich auf eine Theorie des Psychiaters Giulio Tononi von der Universität Wisconsin-Madison. Tononi behauptet, dass bewusste Erfahrung ein fundamentaler Aspekt der Realität ist und gleichbedeutend mit einem bestimmten Typ von Information, den er „integrierte Information“ nennt. Sie ist hochgradig verknüpft und organisiert. Sie lässt sich laut Tononi berechnen und mit einem Zahlenwert namens „Phi“ versehen. Sogar einen „Bewusstseins-Meter“ hat Tononi konstruiert. Um ein „Phi“ größer als null zu besitzen, muss ein Gegenstand ein „integriertes System“ sein. Er muss also zum Beispiel viele Nervenzellen und Synapsen, Nervenzell-Kontakte, besitzen. Das trifft für Mensch und Tier zu, aber nicht für einen Sandhaufen eine Galaxie oder ein Schwarzes Loch. „Diese Objekte sind nicht integriert“, schreibt Koch im Magazin „Scientific American Mind“. „Sie haben kein Bewusstsein und keine mentalen Eigenschaften.“
Wie sieht es mit Computern, einem Smartphone oder gar dem Internet aus? Die Zahl seiner Schalter (in Form von Transistoren) entspricht derjenigen der „Schalter“ im Gehirn von 10 000 Menschen, in Form von Synapsen. Gibt es bewusste Maschinen? Prinzipiell ist das vorstellbar, argumentiert Koch. Allerdings sei die Annahme, das Internet habe so etwas wie Selbstbewusstsein, momentan „völlig spekulativ“.
Bewusstsein kann man nicht auf Prozesse in der Hirnrinde reduzieren
Während Koch glaubt, dass Tononis Theorie „einen gigantischen Schritt in Richtung einer endgültigen Lösung des Körper-Seele-Problems“ darstellt, sind manche seiner Kollegen weniger überzeugt. „Der Begriff ,Information‘ erklärt nichts“, kontert der Hirnforscher Roth. Er hebt die Bedeutung der Evolution hervor. Aus seiner Sicht ist das Bewusstsein von Vorteil, um als „neu“ und „wichtig“ erkannte Aufgaben zu meistern.
Mentale Felder schaffen eine virtuelle Gesamtwelt
Denn es schaffen nur sehr wenige der im Gehirn eintreffenden oder erzeugten Informationen, ins Bewusstsein „vorgelassen“ zu werden. Den routinemäßigen Weg zur Arbeit beherrscht der Pendler wie im Schlaf und meistert ihn beinahe unbewusst. Raubt ihm aber ein anderer Autofahrer die Vorfahrt, ist er plötzlich aufmerksam und konzentriert.
Obwohl Bewusstsein ein Produkt kommunizierender Nervenzellen ist, ist es nicht mit dieser Aktivität identisch, argumentiert Roth. Synchron feuernde Neuronen erzeugen in der Hirnrinde elektromagnetische Felder und diese wiederum „mentale“ Felder. Geist und Bewusstsein lassen sich „als ein immaterielles System verstehen, das aus ,mentalen Feldern‘ aufgebaut ist“. Sie erschaffen eine virtuelle Gesamtwelt, die aus der Wahrnehmung der Umwelt, unseres Körpers und des Geistes besteht, vermutet Roth.
Elektromagnetische Felder in der Hirnrinde sind zwar erforderlich, um Bewusstsein zu erzeugen, dieses geht aber über sie hinaus. Roth spricht von „Emergenz“, also dem Herausbilden neuartiger Eigenschaften. Bewusstsein ist ein Produkt des Gehirns. Aber es ist nicht auf Prozesse in der Hirnrinde reduzierbar, auch wenn es von diesen hervorgebracht wird. Daraus folgt für Roth, dass der Geist zumindest teilweise autonom ist.
Wie ein Schreibtisch, auf dem sich die Akten stapeln
Woraus Bewusstsein besteht, diese Frage sei vielleicht niemals befriedigend zu beantworten. „Das ist keine Besonderheit des Geist-Gehirn-Problems“, sagt Roth. „Ein Physiker ,versteht‘ auch nicht, was Quanten sind.“ Es komme auf die präzise Beschreibung an. „Die Suche nach dem Wesen des Geistes haben die Naturwissenschaften sich abgewöhnt, darin besteht ihr Vorteil.“ Auch John-Dylan Haynes kann gut damit leben, dass die Hirnforschung keine letzten Wahrheiten erlangen kann. Diesseits von ihnen gebe es eine Menge Fragen, die die Wissenschaft aufklären könne. Etwa die, wann Bewusstsein auftrete – ein Problem, das Haynes im Labor untersucht.
Unter den vielen Theorien, die das Bewusstsein und seine Entstehung zu erklären versuchen, hat sich bislang keine als allgemeingültig erwiesen. Den größten Einfluss hat seit einigen Jahren das Modell der „globalen Arbeitsfläche“ (global workspace). Es geht auf den Psychologen Bernard Baars zurück. Nach dieser Theorie ähnelt das Bewusstsein einem Schreibtisch, auf dem sich Akten stapeln. Nur jeweils eine von ihnen ist aufgeklappt, steht damit im Zentrum des Interesses und ist „bewusst“.
Das Modell der „globalen Arbeitsfläche“ ist mit einem Theater verglichen worden: Auf der Bühne des Bewusstseins werden jene Schauspieler in gleißendes Licht getaucht, die gerade unsere Aufmerksamkeit fesseln. Im Hintergrund stehen Regisseur, Autor, Bühnenbildner parat – also jene Teile des Gehirns, ohne die das Theaterstück namens Bewusstsein nicht möglich wäre. Und das Publikum? Ist bewusstlos.
Hartmut Wewetzer
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