Historikerstreit um Sklaverei: Wie afrikanische Eliten mit kolonialen Regimen zusammenarbeiteten
Nicht nur Opfer der Sklaverei: Der senegalesische Historiker Ibrahima Thioub erklärt in Berlin, warum westafrikanische Gesellschaften auch Täter waren.
Der transatlantische Sklavenhandel gilt heute als eines der größten Menschheitsverbrechen der Moderne. Zwölf Millionen Menschen wurden von Europäern bis ins 19. Jahrhundert auf den amerikanischen Doppelkontinent deportiert und versklavt, oftmals unter grausamsten Verhältnissen. Dieser Prozess bildet für viele postkoloniale Denker die Grundlage des antischwarzen Rassismus. Und er begründet einen Kreislauf kolonialer Gewalt und Abhängigkeit, der in den USA und den Staaten der Subsahara nachwirkt. „Die Sklaverei ist die blutende Wunde unter den Narben der Gesellschaft“, schrieb einst der ghanaische Poet Opoku Agyemang.
Und doch wurde ihr Erbe gerade in den westafrikanischen Ländern lange verdrängt. Denn die Gesellschaften an den Küsten waren nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Erst seit einigen Jahren wird dieser Aspekt der Erinnerung öffentlich thematisiert. Die lange Zeit dominanten nationalen Geschichtsschreibungen geraten dabei in Ländern wie Ghana oder dem Senegal in die Kritik. Es ist ein regelrechter Historikerstreit entbrannt.
Einer der Wortführer in dieser Debatte ist der senegalesische Historiker Ibrahima Thioub, Rektor der Universität von Dakar. Der 64-Jährige forscht seit über zwanzig Jahren zum Thema – und sieht sich als Störenfried der Debatte. Mit scharfen Worten kritisiert er die westafrikanischen Eliten und viele seiner Historikerkollegen, gerade aus der ersten Generation nach der Unabhängigkeit in den 1960er Jahren. Das wurde auch bei einem Auftritt in Berlin am Mittwoch deutlich.
Die eigene Rolle wurde nie thematisiert
„Sie haben die Forschung zur Sklaverei unterdrückt“, sagte Thioub jetzt im deutsch-französischen Forschungszentrum für Sozial- und Geisteswissenschaften Centre Marc Bloch. Ein Befund, zu dem auch die israelische Historikerin Ella Keren vor einigen Jahren kam, als sie die ghanaische Geschichtsschreibung untersuchte. Ihr Fazit: Die Historiker hätten die eigene Rolle in der Sklaverei nicht thematisiert, weil sie nicht in das Bild der glorreichen Vergangenheit der eigenen Nation passe.
Schon in den 1960er Jahren machte der guyanische Historiker Walter Rodney in seinem Buch „How Europe Underdeveloped Africa“ auf die Kooperation zwischen afrikanischen Eliten und den kolonialen Regimen aufmerksam. Sie hätten die afrikanischen Massen gemeinsam ausgebeutet. Das kritisiert auch Thioub. „Meine Vorfahren waren an diesem Prozess beteiligt“, sagt der Historiker. Die westafrikanischen Eliten hätten ihre Landsleute entführt und zu ihrem eigenen Vorteil den Europäern ausgeliefert. Sie hätten gemeinsam ein Sklavensystem aufgebaut.
„Nicht jeder Schwarze wurde Gefangener“
Die Kritik, die Thioub äußert, rüttelt am Selbstverständnis vieler westafrikanischer Nationen. Dabei geht es nicht darum, die grundsätzliche Verantwortung der Europäer für die Verbrechen des Sklavenhandels und Kolonialismus in Frage zu stellen, sondern sich den unterschiedlichen und konflikthaften Erinnerungen dieser traumatischen Vergangenheit zu stellen.
Das Bild vom Schwarzen als pauschalem Opfer verschleiere die Machtverhältnisse und Ausbeutungsstrukturen auf dem Kontinent. „Alle Gefangenen waren Schwarze. Aber nicht jeder Schwarze wurde Gefangener“, mahnt Thioub. Wer sich bloß auf die Hautfarbe konzentriere, stärke zwar die gemeinsame Identität, erschwere aber eine historische Lesart des Problems.
Die Sklaverei ist längst nicht Geschichte
Thioub zieht durchaus Parallelen zur heutigen Situation und der gegenwärtigen Migrationskrise. Auch sie sei ausgelöst durch eine stillschweigende Übereinkunft zwischen afrikanischen Eliten und westlichem Kapital, die die Ausbeutung der Massen zum Ziel hätte. Die Sklaverei sei zwar abgeschafft, aber längst nicht Geschichte. Sie überdauere in den Verwüstungen und Entführungen der Bürgerkriege, der Zwangsarbeit in den Minen und auf den Plantagen, der Prostitution.
Wer die sogenannte Flüchtlingskrise verstehen wolle, der müsse sich der Komplexität der afrikanisch-europäischen Geschichte und ihrer Ausbeutungsverhältnisse stellen, sagt Thioub. Es reiche eben nicht mit dem Finger auf den jeweils anderen zu zeigen.
Giacomo Maihofer
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