Nachhaltigkeit: Wider den Kahlschlag
Alles soll heute „nachhaltig“ sein. Tatsächlich wurde der Begriff bereits vor 300 Jahren geprägt – von Hans Carl von Carlowitz, der eine verantwortungsvolle Forstwirtschaft forderte. Eine Rückübersetzung aus dem Englischen macht jetzt eine erstaunliche Karriere.
Der moderne Mensch kann nachhaltig einkaufen, nachhaltig Wäsche waschen und ist nachhaltig mobil. Kommunen, Unternehmen und Organisationen stellen bei vielen Gelegenheiten ihre Nachhaltigkeit heraus. Diese Entwicklung der Nachhaltigkeit zu einem Universalbegriff des modernen Lebens begann erst vor einem Vierteljahrhundert. 1987 gelangte er in der Formulierung „nachhaltige Entwicklung“ durch den „Brundtland-Bericht“ der Vereinten Nationen in die öffentliche Debatte und hat seitdem eine steile Karriere gemacht. Seine Wurzeln liegen aber im Deutschland des 18. Jahrhunderts und sind mit dem Namen Hans Carl von Carlowitz (1645–1714) verbunden.
Vor 300 Jahren erschien Carlowitz’ Buch „Sylvicultura oeconomica oder hauswirtliche Nachricht und naturmäßige Anweisung zur wilden Baumzucht“. Es stand in der Tradition der Hausväterliteratur, die an die (meist adeligen) Grundbesitzer gerichtet war. Die Bücher sollten den Lesern Tipps für eine gewinnbringende Bewirtschaftung ihrer Güter geben, aber auch die Verantwortung für ihre Untertanen bewusst machen. Carlowitz ging deutlich über ein paar Ratschläge hinaus und gab detaillierte Anleitungen für eine nachhaltige Forstwirtschaft – auf dass der wertvolle Rohstoff nicht knapp werde.
Der Autor entstammte einer Adelsdynastie, die über mehrere Generationen im Auftrag des jeweiligen sächsischen Kurfürsten mit der Holzwirtschaft befasst war. Als sein wegweisendes Werk 1713 erschien, war Carlowitz sächsischer Oberberghauptmann in Freiberg.
Nach dem Besuch des Gymnasiums in Halle, wo Botanik zu seinen Fächern gehörte, studierte er Rechts- und Staatswissenschaften in Jena. 1665 begab sich Carlowitz auf eine Studienreise durch Europa. In London erregte damals gerade ein Buch des Gartenplaners John Evelyn Aufsehen, in dem dieser die Aufforstung der kahlgeschlagenen Wälder Britanniens forderte.
Noch mehr Eindruck auf Carlowitz machte die „große Reformation der Wälder“ in Frankreich, die er bei seinem Aufenthalt 1667 kennenlernte. In den „Ordonnanzen“ von 1669 werden konkrete Anweisungen dazu gegeben: Samenbäume sollen stehen bleiben, kahle Flächen bepflanzt, ein Viertel des Niederwaldes zur Entwicklung des Hochwaldes reserviert bleiben.
Carlowitz besuchte auch Venedig, wo er vermutlich von den dortigen Forstgesetzen erfuhr. Die Venezianer hatten 1476 die Wälder entlang des Flusses Piave, der in die venezianische Lagune mündet, unter strengen Schutz gestellt, nachdem sie in Dalmatien schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Dort hatte Venedig in großem Stil Holz für den Ausbau der Stadt und die Kriegs- und Handelsflotte geschlagen und massiv zur Verwandlung der Region in eine wenig fruchtbare Karstlandschaft beigetragen. Carlowitz ist also nicht der „Erfinder“ der Nachhaltigkeit, sondern schrieb auf, was andere vor ihm angestoßen hatten.
Holz war ein Rohstoff, der ähnlich intensiv genutzt wurde wie heute Erdöl, nämlich für den Bau von Häusern, Brücken und Schiffen, für Möbel, als universales Brennmaterial für den Familienherd bis hin zu Öfen für die Metallgewinnung. Durch das Bevölkerungswachstum und den Flottenbau kam es in einigen Regionen Europas bereits im 17. Jahrhundert zu einem Holzmangel. In Kursachsen, der Heimat Carlowitz’, galt seit 1560 eine Holzordnung, die den Raubbau an Wäldern verbot. Die mangelhafte Umsetzung des Verbots dürfte ein Grund für ihn gewesen sein, das Buch zu schreiben.
Auf Seite 105 der „Sylvicultura oeconomica“ fordert Carlowitz in Bezug auf den Wald, „dass es eine kontinuierliche, beständige und nachhaltende Nutzung gebe“. Diese Stelle gilt als Geburt des Begriffs „nachhaltig“ im heutigen Sinne. Das Wort an sich war damals bereits in der Wendung „zu treuer Hand nachhalten“ in der Rechtssprache gebräuchlich. Von Carlowitz ausgehend verbreitete sich der Begriff schnell in der deutschsprachigen Forstliteratur.
Ins Englische übertrug ihn Wilhelm Schlich. Der Hesse nahm 1866 eine Stelle in der Forstwirtschaft der britischen Kolonie Indien an, arbeitete sich dort nach oben und wurde schließlich in England Professor für Forstwirtschaft. 1889 erschien der erste Teil von Schlichs „Handbuch der Forstwirtschaft“. Im Band über Forstmanagement schreibt er von einer Waldbewirtschaftung nach den Prinzipien des „nachhaltigen Ertrags“, wobei er Wörter „sustained yield“ verwendet. „Sustain“ wird in gängigen deutsch-englischen Wörterbüchern mit „aufrecht erhalten“, „aushalten“ übersetzt. Mit dieser Wortwahl hat Schlich den Grundstein für die „sustainability“ gelegt, den heute weltweit verwendeten Begriff für „Nachhaltigkeit“.
Dass dieses Prinzip mittlerweile in vielen Lebensbereichen angewendet wird, ist eng mit der Naturschutzbewegung verbunden. Einer der Pioniere war der Schweizer Zoologe Paul Sarasin. Beim internationalen Zoologenkongress 1910 geißelte er die Naturausbeutung: „Überall griff eine rücksichtslose industrielle Ausbeutung zerstörend in die Lebensgenossenschaften des Erdballs und brachte vorübergehenden Nutzen oder der Eitelkeit des weißen Menschen die Zierde unserer Mutter Erde zum Opfer.“
Auf Sarasins Betreiben hin lud der Schweizer Bundesrat 1913 zur ersten Weltnaturschutzkonferenz ein, bei der Vertreter von 17 Staaten teilnahmen. Ein wichtiger Punkt war der zunehmend industriell geprägte Walfang, den Sarasin so beschrieb: „Zwei Erfindungen verwandelten die rationelle Waljagd, mit welcher bis dahin persönliche Kühnheit gepaart war, in maschinell geistlose Walvernichtung: Erstens die Erfindung der Walkanone mit Sprenggranate und Sprengharpune und zweitens die der schwimmenden Tran-Siedereien.“
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte die weitere Entwicklung einer weltweiten Naturschutzbewegung, aber es ist bemerkenswert, dass die erste internationale Umweltschutzvereinbarung nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum dem Wohl der Wale galt. Der Beschluss von 1946 hatte zum Ziel, „die Erhaltung der Walbestände sicherzustellen und eine geordnete Entwicklung der Walfangindustrie zu ermöglichen.“
So richtig Fahrt nahm die Umweltschutzdebatte erst in den 1970er Jahren auf. 1972 gab es in Stockholm die erste Weltumweltkonferenz. Aus ihr ging noch im gleichen Jahr das UN-Weltumweltprogramm (UNEP) hervor. Ebenfalls 1972 erschien das Buch „Die Grenzen des Wachstums“. Der Club of Rome, eine Vereinigung von Forschern, Unternehmern und hohen Beamten, hatte den Ökonomen Dennis Meadows mit Berechnungen beauftragt, die klären sollten, wie sich die Welt weiterentwickelt. Das Modell vereinfachte die reale Welt stark und ist deshalb stark kritisiert worden. Die Ergebnisse erregten dennoch viel Aufmerksamkeit: Wenn die Trends, die damals zu beobachten waren, anhalten würden, müsste die Weltbevölkerung in 50 bis 100 Jahren mit empfindlichen Einbußen ihres Lebensstandards zurechtkommen.
In der Folge entstanden Umweltschutzorganisationen, die in englischen Verlautbarungen das Prinzip des „sustained yield“ (nachhaltigen Ertrags) aus der Forstwirtschaft aufgriffen. Doch wenn dieser Begriff ins Deutsche übersetzt wurde, dann sehr uneinheitlich. Das änderte sich erst mit dem „Brundtland-Bericht“ von 1987. Die von der UN eingesetzte Weltkommission für Umwelt und Entwicklung unter dem Vorsitz der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland prägte den Begriff der „nachhaltigen Entwicklung“ („sustainable development“) und führte zu einer weltweiten Nachhaltigkeitsdebatte. Politische Konsequenzen aus dem Bericht waren etwa der Erdgipfel 1992 in Rio de Janeiro und die Folgekonferenzen.
In Deutschland führte die Diskussion 2001 dazu, dass die rot-grüne Bundesregierung den „Rat für nachhaltige Entwicklung“ gründete. Er soll Beiträge zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie liefern und Nachhaltigkeit zu einem wichtigen öffentlichen Anliegen machen.
In seinem Buch „Kollaps – Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ schreibt der amerikanische Evolutionsbiologe Jared Diamond: „Als ich 1959 zum ersten Mal in Deutschland war, stellte ich erstaunt fest, dass fast das ganze Land von ordentlich bewirtschafteten Wäldern bedeckt war. Zuvor hatte ich mir Deutschland als industrialisiertes, bevölkerungsreiches, urbanes Land vorgestellt.“ Nicht nur Amerikaner können über den deutschen Wald staunen. Auch den Deutschen war lange Zeit nicht bewusst, dass ihre Wälder das Ergebnis eines forstwirtschaftlichen Prinzips waren, das Hans Carl von Carlowitz vor mittlerweile 300 Jahren ausführlich dargestellt hat.
Stefan Parsch
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