Impfstoff gegen Aids: Wettrüsten mit einem Virus
Seit 30 Jahren suchen Forscher nach einem Impfstoff gegen Aids. Nun hoffen sie, im Blut einiger Infizierter endlich eine Lösung gefunden zu haben. Eine Serie von Impfungen soll das Immunsystem schulen, damit es das Virus in den Griff bekommt.
Es ist Freitagmorgen in Kenia, kurz nach neun, als den HIV-Forscher Eduard Sanders der ängstliche Anruf eines Mitarbeiters erreicht. Die kleine Klinik in Mtwapa werde von einer aufgebrachten Menge angegriffen, sagt der junge Mann. Sanders ist etwa eine Stunde entfernt, er springt sofort in sein Auto und fährt los.
Die Aufregung ist ungewohnt. Bisher hat Sanders vor allem Geduld gebraucht. Der niederländische Forscher ist 2003 mit seiner Frau an die Küste Kenias gezogen. Seine Aufgabe: eine Kohorte aufzubauen, eine Gruppe von Menschen, die ein hohes Risiko haben, sich mit HIV anzustecken, dem Virus, das die Immunschwäche Aids auslöst. Finden Forscher eines Tages einen vielversprechenden Impfstoff, könnten sie einen Teil der Kohorte damit impfen. Nach einigen Jahren könnten sie dann vergleichen, wie viele der Geimpften sich mit HIV infiziert haben, und wie viele der Menschen, die ihn nicht bekommen haben. Nur so können sie nachweisen, dass der Impfstoff tatsächlich vor der Ansteckung schützt.
Die höchsten Ansteckungszahlen hat Sanders bei schwulen Männern gefunden. Mit seinem Team baut er eine Klinik auf, sie bieten HIV-Tests an und Medikamente für die Infizierten. Manchen in der Gegend passt das nicht. In Kenia gelten alte britische Gesetze, und Homosexualität ist verboten.
Nun hat sich in der Gegend offenbar das Gerücht verbreitet, dass zwei schwule Männer heiraten wollen. Die Männer haben das beim Friseur erzählt, als Scherz. Ein Priester und ein Imam haben die Menge aufgepeitscht, sagt Sanders. Der wütende Mob findet keine Schwulenhochzeit – und zieht stattdessen zur Klinik, in der Schwule behandelt werden.
Um kurz nach zehn erreicht Sanders die Klinik. Das Tor ist offen. Polizisten sind in der Klinik und verhaften die Mitarbeiter. Zum Glück, sagt Sanders, denn das besänftigt die aufgebrachte Menge. Am Ende kommt niemand zu Schaden, aber die Episode zeigt, wie schwierig es immer noch sein kann, mit stigmatisierten Gruppen zu arbeiten. Ein Großteil der Männer in Sanders Kohorte flieht aus der Gegend und der Forscher beginnt von Neuem, Menschen zu rekrutieren und Vertrauen aufzubauen. Es ist nur einer von vielen kleineren Rückschlägen für eine der größten Aufgaben der modernen Medizin: einen Impfstoff gegen Aids zu finden.
Bei der Behandlung von HIV-Infizierten hat es in den vergangenen Jahren riesige Fortschritte gegeben. Heute können Medikamente die Vermehrung des Virus stoppen und so den Ausbruch der Krankheit Aids über Jahrzehnte hinauszögern. Große internationale Organisationen wie der Globale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose haben die Medikamente auch für arme Länder bezahlbar gemacht und so Millionen Menschenleben gerettet. HIV-positive Menschen haben durch die Pillen eine annähernd normale Lebenserwartung, HIV-positive Mütter können gesunde Kinder zur Welt bringen. Und die Behandlung der Infektion senkt zugleich auch das Risiko, andere anzustecken.
Trotzdem bleibt ein Impfstoff der große Traum der HIV-Forscher. Dafür gibt es viele Gründe: Das Aids-Virus kann Resistenzen gegen die Medikamente entwickeln. Nicht jeder verträgt die Pillen. Und es ist unklar, welche Nebenwirkungen noch zum Vorschein kommen, wenn sie über Jahrzehnte genommen werden. Hinzu kommt, dass bei Weitem nicht alle infizierten Menschen auf der Welt erreicht werden – oder überhaupt wissen, dass sie HIV-positiv sind. Laut Weltgesundheitsorganisation leben weltweit mehr als 35 Millionen Menschen mit dem Virus. Nur etwa 13 Millionen von ihnen erhalten HIV-Medikamente. Und trotz aller Fortschritte: Noch immer stecken sich jedes Jahr rund zwei Millionen Menschen an. Nicht nur Sanders, die ganze Welt wartet auf einen Impfstoff.
Bisher wartet sie vergeblich. Als US-Gesundheitsministerin Margaret Heckler im April 1984 bekannt gab, dass das Virus gefunden sei, das die Aids-Erkrankung auslöst, wagte sie noch eine Prognose: In zwei Jahren könnten vermutlich erste Tests des Impfstoffes durchgeführt werden. 30 Jahre später ist eine Impfung nach wie vor nicht in Sicht. Milliarden Dollar sind in die Forschung gesteckt und hunderte aussichtsreiche Stoffe untersucht worden. Keiner von ihnen hat überzeugt.
Warum ist es so schwer, einen Impfstoff gegen HIV zu entwickeln? Um das zu verstehen, hilft ein Vergleich mit anderen Erregern. Steckt sich ein Mensch mit Pocken oder Polio an, so beginnt sein Immunsystem den Erreger zu bekämpfen. Es produziert T-Zellen, die virusinfizierte Zellen erkennen und zerstören. Und B-Zellen, die Antikörper produzieren, kleine Y-förmige Moleküle, die sich an das Virus im Blut heften und verhindern, dass die Viren in Zellen eindringen. Überlebt der Patient die Infektion, so stehen Zellen und Antikörper fürs nächste Mal bereit, sein Immunsystem ist für die Zukunft gewappnet.
Impfstoffe täuschen diesen ersten Angriff mit einer harmlosen Kopie des Erregers vor und bringen das Immunsystem so dazu, sich auf den echten Erreger vorzubereiten. Sie funktionieren, weil das menschliche Immunsystem im Grunde die Waffen hat, um den Erreger zu besiegen. Es braucht nur ein bisschen Vorsprung.
Bei HIV ist das anders. Infiziert sich ein Mensch mit dem Aids-Virus, beginnt in seinem Körper eine Art Wettrüsten. Das Virus schleust sich in die Zellen des Immunsystems und produziert immer neue Kopien von sich selbst. Aber der Erreger kopiert das eigene Erbgut nur schlampig, er macht zahlreiche Fehler. So entstehen Milliarden Viren mit tausenden kleinen Unterschieden auf der Oberfläche. Das Immunsystem entwickelt Antikörper und T-Zellen, die den Großteil der Viren erkennen und unschädlich machen. Doch einige der Viren entkommen dem Immunsystem und vermehren sich dann rasant. Das Immunsystem rüstet ständig nach, aber es hat keine Chance. „Das Virus ist den Antikörpern immer einen Schritt voraus“, sagt Wayne Koff, Chef-Wissenschaftler bei der International AIDS Vaccine Initiative, einer öffentlich-privaten Partnerschaft, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Entwicklung eines HIV-Impfstoffes zu beschleunigen.
Weil das Immunsystem HIV nicht in den Griff bekommt, fehlt Forschern das natürliche Vorbild für ihren Impfstoff. „Normalerweise ahmen wir mit einem Impfstoff den natürlichen Schutz nach einer Infektion nach“, sagt Anthony Fauci, Chef des Nationalen Instituts für Allergie und Infektionskrankheiten. „Bei HIV gibt es diesen Schutz nicht. Es gibt nichts nachzuahmen.“
Zumindest dachten Forscher das bis vor einigen Jahren. Inzwischen ist klar, dass etwa jeder zehnte HIV-Infizierte nach einigen Jahren des Wettrüstens tatsächlich Antikörper entwickelt, die die allermeisten Aids-Viren erkennen: breit neutralisierende Antikörper. „Das ist Evolution“, sagt Dennis Burton, der diese Antikörper am Scripps-Institut in Kalifornien erforscht. „Das sind ziemlich ungewöhnliche Antikörper und es dauert einige Jahre, bis das Immunsystem über zahlreiche Zwischenstufen zu solchen Antikörpern gelangt.“ Für den Patienten kommen sie dann zu spät. Das Virus hat sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls über Jahre angepasst und seine Oberfläche so radikal geändert, dass selbst diese besonderen Antikörper ihm nichts anhaben können.
Die breit neutralisierenden Antikörper können also eine Infektion nach Jahren nicht mehr einfangen, sie können aber eine neue Infektion abwehren. So haben Forscher gezeigt, dass Affen, denen einige dieser Antikörper gespritzt werden, sich nicht mit HIV infizieren. „Wir wissen, dass diese Antikörper schützen“, sagt Burton. „Die Frage ist jetzt: Wie muss ein Impfstoff aussehen, der Menschen dazu bringt, diese Antikörper herzustellen?“
Fauci, Burton und andere glauben, dass es möglich ist, das Immunsystem Stück für Stück zu belehren. Der Gedanke: Dem Menschen werden nach und nach verschiedene Impfstoffe verabreicht, die das Immunsystem zu den gewünschten Antikörpern lenken. Es mag nicht nach viel klingen, nur eine neue Idee. Aber sie hat dem Feld neuen Auftrieb gegeben.“ Die Stimmung ist besser als seit vielen Jahren“, sagt Burton.
Erstmals haben die Forscher ein klares Ziel vor Augen. Sie wissen, wie das Ziel der Impfung aussieht. Zunächst wollen sie nun in Tieren nachweisen, dass es tatsächlich möglich ist, durch eine Impfung breit neutralisierende Antikörper hervorzurufen. Sollte das gelingen, könnte der langwierige Prozess beginnen, so eine Serie von Impfstoffen auch im Menschen zu testen.
Selbst wenn alles gut läuft, wird Sanders also noch einige Jahre warten. Das gibt ihm Zeit, um in Kenia Überzeugungsarbeit zu leisten. Nach dem Angriff auf die Klinik hat der Forscher begonnen, Anführer in der Gemeinde stärker einzubinden und gezielt Vorurteile gegenüber Schwulen abzubauen. „Ich bin überzeugt davon, dass wir Aids nicht besiegen werden, wenn wir es nicht schaffen, auf dem Kontinent der am stärksten betroffen ist, auch die Menschen einzubinden, die am stärksten gefährdet sind.“
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