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Besucher in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen.
© Patrick Pleul/picture alliance/dpa

Umfrage zur Erinnerungskultur: Wer sich mit der Nazizeit beschäftigt, zeigt mehr Zivilcourage

In Deutschland ist das Interesse an der Nazizeit laut einer Umfrage groß. Aber auch die Abwehr gegen das Thema wächst, ein Drittel will einen "Schlussstrich".

Die Erinnerungskultur in Deutschland ist von einem großen Interesse an Geschichte und insbesondere am Nationalsozialismus geprägt. Doch es zeigen sich auch Tendenzen, die Auseinandersetzung mit dem NS abzuwehren. Das sind zentrale Erkenntnisse aus einer repräsentativen Umfrage zur Erinnerungskultur, die am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde. Demnach geben 80 Prozent an, (sehr) stark an Geschichte interessiert zu sein, 58 Prozent fühlen sich persönlich betroffen.

Ebenso viele sagen, dass sie sich „auf eigene Initiative“ mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen, etwa indem sie Dokumentar- oder Spielfilme sehen. 47 Prozent haben mindestens einmal in ihrem Leben eine KZ-Gedenkstätte besucht – die Hälfte davon im schulischen Kontext, ein Drittel mit der Familie. Doch gleichzeitig finden 33 Prozent, es sei an der Zeit für einen „Schlussstrich“ unter die Beschäftigung mit der Nazizeit – sieben Prozent mehr als in einer Vorgängerbefragung vor einem Jahr.

"Rechtspopulisten könnten Erinnerungskultur vereinnahmen"

Befragt wurden Ende vergangenen Jahres 1000 Männer und Frauen im Alter von 17 bis 93 Jahren. Auftraggeber sind das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld sowie die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft in Berlin. Die Umfrage „Memo Deutschland – Multidimensionaler Erinnerungsmonitor“ ist als Langzeitstudie angelegt, erste Ergebnisse wurden im Februar 2018 vorgelegt. Ging es damals auch um den Ersten Weltkrieg und die Wiedervereinigung, stand jetzt die Nazizeit im Mittelpunkt.

Ein Grund dafür war laut IKG die vor einem Jahr von 48 Prozent der Befragten geäußerte Befürchtung, dass sich der Holocaust wiederholen könnte. Jetzt stimmten 65,6 Prozent der Aussage zu, man persönlich glaube, „dass Menschen heute zu ähnlichen Taten wie denen im Nationalsozialismus fähig wären“. Gleichzeitig treibt zwei Drittel die Sorge um, die Erinnerungskultur in Deutschland könnte durch Rechtspopulisten vereinnahmt werden.

67 Prozent "mitverantwortlich, Diskriminierungen zu verhindern"

Das in der jüngeren Generation etwas ausgeprägtere starke Interesse am Nationalsozialismus und am Holocaust wirke sich auf das zivilgesellschaftliche Engagement der Menschen aus, sagte Studienleiter Andreas Zick, Direktor am IKG: „Je intensiver sie sich mit dem NS auseinandersetzen, desto eher sind sie bereit, sich gegen die Diskriminierung von anderen einzusetzen.“

So sind zwei Drittel aller Befragten „sensibel für Diskriminierungen“, beispielsweise fühlen sich 67 Prozent „mitverantwortlich zu verhindern, dass Menschen oder Menschengruppen diskriminiert oder ausgegrenzt werden“.

Ambivalent ist die Bereitschaft zur Erinnerungsarbeit in der Familie. Einerseits halten es zwei Drittel für sinnvoll, sich im Hinblick auf den Nationalsozialismus mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen, also nach der Rolle von Eltern, Großeltern oder andere Verwandten zu fragen. Andererseits geben 50 Prozent an, in der Familie werde selten oder nie darüber gesprochen. Als Gründe wird neben mangelndem Interesse die Sorge genannt, das Thema könnte „emotional belastend“ sein.

Mehr Opfer und Helfer als Täter in der Familienerinnerung

Waren unter den eigenen Vorfahren NS-Täter, die sich etwa als Mitglieder der SS, als Soldaten oder Polizisten aktiv an Verbrechen beteiligten? 19,6 Prozent der Befragten bejahen die Frage, bei sogenannten Mitläufern sind es knapp 40 Prozent. Von Opfern in der Familie haben 35,9 Prozent erfahren – am häufigsten genannt werden zivile Kriegsopfer, Geflüchtete oder Vertriebene. Auf die Frage, ob Vorfahren „Opfern geholfen“ haben, antworten 28,7 Prozent mit Ja, vor allem sei Unterstützung im Alltag geleistet oder Essen und Medikamente zugesteckt worden.
Historiker hielten diese Zahlenverhältnisse für nicht plausibel, belastbare Quoten für NS-Täterschaft gebe es aber nicht, hieß es. Doch in den Familien falle es offenbar leichter, Geschichten über Opfer und Helfer weiterzugeben als über Täter. „Die Deutschen möchten sich erinnern, verlieren aber zunehmend den Bezug zu ihrer Geschichte“, sagt Konfliktforscher Andreas Zick.

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