Sozialkreditsysteme in China: Wenn sich Wohlverhalten auszahlt
Die Politologin Genia Kostka hat mehr als 2000 Chinesinnen und Chinesen nach ihrer Meinung zu Sozialkreditsystemen befragt.
China verändert sich rasant. In den vergangenen 40 Jahren hat sich die Volksrepublik vom Agrarstaat zu einer der wirtschaftsstärksten Nationen der Welt entwickelt. Zugleich verweigert die Regierung ihrer Bevölkerung Freiheiten, die in westlichen Ländern selbstverständlich sind. Auf der politischen Ebene ist das Bedürfnis nach Kontrolle größer denn je.
Bestes Beispiel dafür ist ein Sozialkreditsystem, das die Regierung in den nächsten Jahren mit dem Ziel einführen will, chinesische Bürger, aber auch Unternehmen und Organisationen auf Basis ihres Verhaltens zu bewerten und zu steuern. Mehr als 40 Städte nehmen zurzeit an Pilotprojekten teil. Wer seine Steuern zahlt und sozial besonders positiv auffällt, wird auf eine rote Liste gesetzt und genießt besondere Vorteile. Wer aber schwere Rechtsbrüche begeht, kommt auf eine schwarze Liste und muss mit unangenehmen Konsequenzen rechnen: etwa mit dem Verbot, Schnellzüge zu benutzen oder in Hotels ohne Kaution einzuchecken.
In Deutschland rufen solche Methoden sozialer Kontrolle nur Kopfschütteln hervor. Doch was denken die Menschen in China darüber? Professorin Genia Kostka, Politikwissenschaftlerin am Institut für Chinastudien der Freien Universität Berlin, hat im Rahmen einer Studie gemeinsam mit Studierenden mehr als 2000 Chinesinnen und Chinesen online nach ihrer Meinung gefragt. Die Ergebnisse sind verblüffend.
Alles im grünen Bereich?
„Wir konnten herausfinden“, sagt die Professorin, „dass ein großer Teil der Befragten nichts gegen Sozialkreditsysteme hat.“ Das liege unter anderem daran, dass vielen gar nicht bewusst sei, dass sie Teil eines Pilotprojekts der Regierung sind. Nur sieben Prozent hätten angegeben, Bescheid zu wissen. Die überwiegende Mehrheit habe sich über die sozialen Kredit-Systeme von privaten Unternehmen ausgesprochen, die in China extrem populär sind. Die Befragten äußerten sich den Studienergebnissen zufolge insbesondere zum Pilotprojekt „Sesame Credit“, das von dem Technologieunternehmen „Ant Financial“ entwickelt wurde, einem Ableger des größten chinesischen Unternehmens „Alibaba“.
„Sesame Credit“ funktioniert spielerisch: Man kauft über die Plattform ein, vernetzt sich mit Freunden und sieht dann auf seinem Handy, wie man in der Bewertungsstufe steigt oder fällt – also ob man im grünen, gelben oder roten Bereich ist. „Wer einen sehr hohen Wert hat“, sagt Genia Kostka, „kommt zum Beispiel leichter an Kredite oder kann Bike-Sharing betreiben, ohne eine Kaution zu hinterlegen. Es gibt eine lange Liste an Vorteilen.“ Wer dagegen schlecht abschneide, erhalte etwa nicht so leicht einen Kredit.
Wie genau der Algorithmus hinter „Sesame Credit“ funktioniert, ist allerdings unklar. Nur so viel ist sicher: Nicht nur das ökonomische Verhalten spielt eine Rolle, sondern auch das soziale. Wer etwa häufig Online-Spiele spielt, seine Kredite nicht pünktlich zurückzahlt oder sich mit – aus Sicht der Regierung – unliebsamen Personen vernetzt, fällt in der Gunst des Bewertungssystems. Wer wiederum Geld für gemeinnützige Zwecke spendet, steigt in der Bewertungsskala.
Die Risiken sind vielen Chinesen nicht bewusst
Die Wissenschaftlerin hat überrascht, dass sich vor allem die gut ausgebildeten, in Städten lebenden Chinesen über das System zufrieden zeigten. „Sie empfinden häufiger Vorteile, da Sharing-Dienste vor allem in Städten verfügbar sind. Unsere Befragung hat deutlich gemacht, dass sie dem System vertrauen“, sagt Genia Kostka. Aber wie lange noch? Wenn sich der politische Wind in China drehe, könnten Unternehmen wie „Ant Financial“ dazu gezwungen werden, die gespeicherten Daten über das Sozialverhalten ihrer Nutzer an die Regierung weiterzugeben, befürchtet Genia Kostka.
Schon jetzt dürften Personen, die auf bestimmten schwarzen Listen der Pilotprojekte der Regierung stehen, kein Konto bei „Ant Financial“ eröffnen und somit auch „Sesame Credit“ nicht nutzen. „Es besteht also schon jetzt zum Teil ein Datenaustausch zwischen dem Unternehmen und der Regierung“, konstatiert die Professorin. Die Risiken der sozialen Bewertungssysteme sind vielen Chinesen offenbar nicht bewusst. „Momentan gibt es noch keine größeren Diskussionen über die Gefahren etwa des Datenmissbrauchs“, sagt Kostka. „Viele Chinesen haben in den Interviews, die wir zusätzlich geführt haben, verblüfft reagiert, als wir sie zu möglichen Risiken befragten. Sie sagten, sie hätten nie darüber nachgedacht, dass ihre Daten missbraucht werden könnten.“ Kein Wunder: Alle wichtigen chinesischen Fernseh- und Radiosender sind in staatlicher Hand; Themen wie Meinungsfreiheit, Privatsphäre und Überwachung werden bewusst vermieden. Insofern fehle es an Kanälen, um sich über mögliche Risiken zu informieren, sagt die Politologin.
Das Projekt hat eine Lücke im Banksektor geschlossen
Trotzdem geht Genia Kostka nicht davon aus, dass die Chinesen jeden Missbrauch durch die Regierung akzeptieren würden. „Momentan haben die Nutzer der Sozialkreditsysteme fast nur Vorteile. Sollten die Daten aber missbraucht werden und unfair zum Einsatz kommen, könnte sich das Meinungsbild über die Sozialkreditsysteme rasch wandeln.“ Schon jetzt gebe es Spannungen zwischen dem Unternehmen „Alibaba“ und der Kommunistischen Partei Chinas. „Ant Financial musste beispielsweise wiederholt Strafen zahlen und sich entschuldigen, weil es die Privatsphäre der Nutzerinnen und Nutzer verletzt hat“, sagt Kostka. Die Strafen fielen jedoch sehr gering aus, sodass es unwahrscheinlich sei, dass sie ernstgenommen würden.
Wie aber lässt sich der große Erfolg des Sozialkreditsystems „Sesame Credit“ erklären? Das Pilotprojekt sei bei der Bevölkerung so gut angekommen, sagt Kostka, weil es in China strukturelle Defizite im Bankensektor gegeben habe. „In den vergangenen 40 Jahren kam man in China nur sehr schwer an Geld. Es wurden praktisch keine Kreditkarten oder Kredite vergeben. ,Ant Financial’ hat diese Lücke geschlossen. In China gibt es auch immer wieder Probleme mit Lebensmittelskandalen und Umweltverschmutzung – die Sozialkreditsysteme bewerten Unternehmen und üben daher Druck auf diese aus, sich an Regularien und Vorschriften zu halten. Dies trägt zu der Akzeptanz der Systeme bei. Die Bevölkerung freut sich über die Verbesserung ihres Lebensstandards und über die Schließung von regulatorischen und institutionellen Lücken.“
Sind Sorgen also unbegründet? Diese Frage sei nicht eindeutig zu beantworten, sagt die Wissenschaftlerin: „Noch wissen wir sehr wenig über die Sozialkreditsysteme. Die Sorge in westlichen Staaten vor einem Überwachungsstaat ist verständlich. Andererseits waren die meisten Informationen über die Bevölkerung der Regierung schon vor der Einführung der Kreditsysteme bekannt.“ Ihrer Ansicht nach halten sich die positiven und negativen Auswirkungen der Belohnungs- und Bestrafungssysteme die Waage. „Die Frage ist, wie lange dies der Fall sein wird. Wir müssen den Prozess beobachten und schauen, wozu die Regierung die Daten in Zukunft nutzen wird.“
Leonard Fischl