Aufmerksamkeitsstörung: Wenn der Zappelphilipp groß wird
ADHS ist mehr als eine Kinderkrankheit. Auch Erwachsene können unter gestörter Aufmerksamkeit leiden. Das kann ein echtes Handicap bedeuten, beruflich wie privat.
Der Vater! Niemand kümmert sich darum, wie er am Tisch sitzt. Geht es um das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom ADHS, dann ist oft von Philipp die Rede. Dem Zappelphilipp. Und es stimmt ja auch: Sein Papa zappelt nicht. Während die Mutter „stumm auf dem ganzen Tisch herum“blickt, reagiert er aber doch recht impulsiv auf das Kippeln seines Sohns. Nicht ausgeschlossen, dass auch Philipps Vater unter ADHS leidet. Denn nicht immer wächst sich das aus. Auch zwei bis vier Prozent aller Erwachsenen haben ADHS.
Nur geht es vielen wie Jan Krämer*: Dass seine Kindheit im Schatten von ADHS gestanden hatte, dass er „ohne“ vielleicht in der Schule mehr erreicht und sich eine Reihe häuslicher Konflikte erspart hätte, merkte er erst, als sein Sohn die Diagnose bekam. Tatsächlich ist für ein Kind das ADHS-Risiko mehrfach erhöht, wenn schon ein Elternteil unter ADHS litt, wie der Kinder- und Jugendpsychiater ihm bestätigte. Sein Sohn hatte die Anlage dazu wohl von ihm geerbt.
Krämer hatte noch ein zweites Aha-Erlebnis: Bei seiner Arbeit in der Bank hatte er immer wieder Schwierigkeiten, Sitzungen von mehr als einer halben Stunde ruhig durchzustehen und die Akten auf seinem Schreibtisch konsequent abzuarbeiten. Kundengespräche dagegen waren für ihn von jeher das Salz in der bisweilen faden Arbeitssuppe. Vielleicht, die Idee kam ihm erst jetzt, vielleicht hatte ADHS also nicht nur seine Vergangenheit überschattet, sondern wirkte auch in seine berufliche und private Gegenwart hinein?
„Wir Erwachsenenpsychiater tun uns mit diesem Krankheitsbild extrem schwer“, sagt Michael Colla. Der Psychiater forscht seit Jahren zum Thema, heute leitet er am Forschungszentrum von Charité und Max-Delbrück-Centrum auf dem Campus Berlin-Buch eine Hochschulambulanz für erwachsene ADHS-Patienten. Die Ärzte dort haben etwas mehr von dem kostbaren Gut, das für eine ADHS-Diagnose unerlässlich ist: Zeit, um der langen Leidensgeschichte der Betroffenen nachzugehen, eine Vielzahl von Tests mit ihnen zu machen und sogar die Beurteilungen in ihren vergilbten Grundschulzeugnissen zu studieren.
Oft kommen die Patienten mit Symptomen, die eine andere Diagnose nahelegen, mit psychischen Störungen, die sich im Lauf der Zeit hinzugesellt haben: Ängste, Burn-out, Depression. Bei den meisten von ihnen wurde, wie bei Krämer, in der Kindheit nicht die Diagnose ADHS gestellt. Bei einem Fünftel seiner Patienten wurde die Diagnose zwar gestellt – doch sie dachten, die Sache habe sich nach der Pubertät erledigt.
Tatsächlich verschwindet die Krankheit bei der Mehrheit der Betroffenen, betont Colla: „Irgendwann zwischen 16 und 25 werden die Weichen gestellt.“ Wer danach ADHS hat, hat es nicht einfach behalten: Er leidet unter einer Krankheit, die ihr Erscheinungsbild geändert hat. Weil die motorische Unruhe, die typische „Hyperaktivität“, verschwunden ist, ist siefür die Umwelt unauffälliger geworden. Dazu kommt, dass Erwachsene nicht in der Schule sitzen, wo schnell auffällt, wenn einer sich weniger gut konzentrieren kann als seine Mitschüler. Wenn man seine Aufmerksamkeit schwer steuern und die Impulsivität kaum bremsen kann, bekommt man allerdings auch als Erwachsener schnell Probleme.
Voraussetzung für die Diagnose ist, dass man schon als Kind mit diesen Widrigkeiten zu kämpfen hatte. US-Forscher Paul Wender hat die acht Beschwerden umfassende „Wender-Utah-Rating-Scale“ entwickelt, anhand derer Psychotherapeuten und Psychiater zusammen mit ihren Patienten ermitteln, ob sie mit acht bis zehn Jahren eine unerkannte ADHS hatten: Zwingend für die rückwirkende Diagnose sind erstens eine Störung der Aufmerksamkeit bei fehlender Stimulation, zweitens die klassische Hyperaktivität, auch in Form von innerer Unruhe und Nervosität. Außerdem müssen im Rückblick auf das Kind von damals mindestens zwei der folgenden Kriterien zutreffen: Labile Gefühlslage, desorganisiertes Verhalten, gestörte Kontrolle der Affekte, Impulsivität und emotionales Überreagieren.
Heute ist klar, dass im Gehirn von Patienten mit ADHS etwas aus der Balance geraten ist, und zwar mit den Botenstoffen Dopamin und Noradrenalin. Das Gehirn nutzt die beiden Neurotransmitter, um Informationen von einer Nervenzelle zur nächsten zu leiten, Noradrenalin ist eher für die Aufmerksamkeit, Dopamin für Antrieb und Motivation „zuständig“. Steht von beidem weniger zur Verfügung, so eine heute gängige Theorie, entwickelt sich ADHS. Der englische Kinderarzt George Still allerdings war ein Pionier, als er 1902 im Fachblatt „Lancet“ das Verhalten bestimmter unruhiger, unaufmerksamer, unkonzentrierter Kinder als „angeborenes“, nicht erziehungsbedingtes Problem beschrieb. Erst im Jahr 1978 nahm die WHO das „hyperkinetische Syndrom“ in den Krankheits-Katalog ICD-9 auf. Und es sollte bis zum Ende der 90er Jahre dauern, bis das Thema auch in die Lehrbücher der Erwachsenen Einzug hielt.
„Früher wurde stattdessen zum Beispiel eine ‚atypische Depression’ oder eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung diagnostiziert“, berichtet Colla. Inzwischen ist klar, dass Behandlungen, die gegen Depressionen wirken, bei ADHS keinen Erfolg haben. So haben Ulrich Hegerl und seine neuropsychiatrische Forschungsgruppe von der Universität Leipzig festgestellt, dass Schlafentzug, der bei Depressionen oft heilsam ist, bei ADHS-Patienten die Symptome eher verschlimmert. Und Studien von Forschern der Universität des Saarlandes belegen, dass das klassische ADHS-Medikament Methylphenidat gegen Ängste und Depressionen nicht wirkt – ein weiterer Hinweis, dass es sich um ganz verschiedene Störungen handelt.
In Zusammenarbeit mit dem Mathematiker Jörg Langner und der Psychologin Daina Langner hat Colla eine verblüffende Methode getestet, um die Diagnose ADHS zu objektivieren: Die „Deep Speech Pattern Analysis“, die es ermöglicht, in kurzen sprachlichen Äußerungen charakteristische Muster der Sprechstimme auszumachen. Das menschliche Ohr hört sie nicht heraus, doch die akustischen Informationen lassen sich in farbige Diagramme übersetzen, anhand derer sie erkennbar sind. Die Analyse ergab: Wenn ADHS-Patienten sprechen, wirkt das zwar auf den Hörer lebendiger und ungleichförmiger, es zeigt aber auf der, mit bloßem Ohr nicht wahrnehmbaren, Mikroebene eine starrere Lautbildung.
Eine vom Bundeswirtschaftsministerium unterstützte Pilotstudie mit 300 Schulkindern, deren Daten kürzlich vorgestellt wurden, belegt die Treffsicherheit der Methode, es ergab sich eine Übereinstimmungsquote von 90 Prozent mit der ärztlichen Diagnose. Colla ist überzeugt, dass Audioprofile auch bei Erwachsenen die Diagnose erhärten können. Sprachmelodie, Rhythmus, Klangfarbe, Schwankungen der Lautstärke: All das könnte also in Zukunft helfen, ADHS zu erkennen. Noch ist es nicht so weit. Doch Verbesserungen in Diagnostik und Therapie auch für Erwachsene mit ADHS seien dringend nötig, sagt Colla.
Profitieren könnten dann auch Autofahrer. Eine Ende Januar in der Fachzeitschrift JAMA Psychiatry erschienene Studie aus Schweden, für die Daten von 17 000 Autofahrern mit ADHS ausgewertet wurden, belegt: Werden sie mit Medikamenten behandelt, reduziert das ihr Risiko, in einen Verkehrsunfall verwickelt zu werden, um die Hälfte. Erst seit rund zwei Jahren ist Methylphenidat für Erwachsene zugelassen, das bei ihnen zuvor nur „Off-Label“ eingesetzt werden konnte. Dass es nicht nur bei Heranwachsenden wirkt, belegen zahlreiche Studien.
Psychotherapie verstärkt den Effekt: Unter Leitung von Alexandra Philipsen von der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Uniklinikums in Freiburg lief in den letzten Jahren eine multizentrische Studie, an der auch die Hochschulambulanz der Charité teilgenommen hat. Dafür bekamen 1500 Patienten neben Methylphenidat entweder eine eigens für das Krankheitsbild entwickelte achtsamkeitsbasierte Gruppenpsychotherapie, bei der auch die Strukturierung des Alltags Thema war, oder aber die gleiche Anzahl von Terminen, aber nur eine unspezifische Beratung. „Die Untersuchung ist noch nicht vollständig ausgewertet, doch es zeichnet sich ab, dass das klinische Bild der Teilnehmer der Behandlungsgruppe sich danach gebessert hat“, berichtet Colla. Noch unklar ist aber, wie die Patienten selbst die Wirkung im zeitlichen Abstand von einigen Monaten einschätzen.
Erwachsene können und müssen, weit mehr als Kinder, für sich selbst den passenden Umgang mit ihrer psychischen Auffälligkeit finden. „Man darf ADHS ja keinesfalls nur als defizitäres Element im Leben sehen“, warnt der Psychiater. Sie sorge auch für spontane Entschlüsse, lebendiges Erzählen, kreatives Verknüpfen von Gedanken. Ausgeglichenheit und Ruhe wären wohl zu teuer bezahlt, wenn all das zum Erliegen käme. „Man muss allerdings in Kauf nehmen, durch die Medikamente etwas an Tempo zu verlieren.“ Bei einigen, die als Kind ADHS hatten, passiert das nach der Pubertät von selbst. Was genau sich in dieser sensiblen Phase im Gehirn verändert, ist noch nicht klar. Und es fehlt die Antwort auf die Frage, warum es nicht bei allen Heranwachsenden geschieht.
Und später? Colla hat jedenfalls noch niemanden in seiner ADHS-Sprechstunde gehabt, der älter als 70 Jahre war. Neurobiologische Veränderungen scheinen irgendwann doch so etwas wie den Eintritt in ein „gesetzteres Lebensalter“" einzuleiten. Zappelphilipps Großeltern fehlen auf dem Bild.
*Name von der Redaktion geändert.
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