Erdgeschichte: Wenn der Faktor Mensch prägend wird
Das Ende der letzten großen Eiszeit gilt als der jüngste Wendepunkt in der Erdgeschichte. Geologen diskutieren nun, ob es nicht an der Zeit sei, eine neue Epoche auszurufen: Das Anthropozän – die Menschenzeit.
Es muss in den frühen1970er Jahren gewesen sein. Reinhold Leinfelder ging noch zur Schule, und er hatte ein ungewöhnliches Hobby: Frösche, Molche und Kröten. Von ihnen gab es in den Wäldern westlich von Augsburg viele – doch eines Tages waren sie weg. Von heute auf morgen. In der Nachbarschaft war ein Golfplatz angelegt worden – und der Dünger des Rasens hatte die nahen Seen umkippen lassen.
„Das war ein Schlüsselerlebnis“, sagt Reinhold Leinfelder, seit 2012 Professor für Paläontologie und Geobiologie an der Freien Universität Berlin. Was er damals westlich von Augsburg beobachtet hat, beschäftigt ihn noch heute: Welchen Einfluss hat der Mensch auf die Umwelt? Wie stark ist dieser Einfluss? Und ist es überhaupt noch sinnvoll, Natur und Kultur voneinander getrennt zu betrachten?
„Nur noch ein Viertel der eisfreien Landfläche ist in einem von Menschen eher unbeeinflussten Zustand“, sagt Leinfelder. Sizilien: von den Römern abgeholzt, um die Armee mit Getreide zu versorgen. Der Aralsee: ausgetrocknet, um die Baumwollfelder der kasachischen Steppe zu bewässern. Das Ozonloch: vom Menschen verursacht. Und Berlins höchste Erhebung: der Teufelsberg, ein Hügel aus dem Trümmerschutt des Zweiten Weltkrieges. Die Erde werde mehr und mehr eine „Menschen-Erde“.
Leinfelder ist Geologe. Er denkt Geschichte nicht in Jahrhunderten, sondern in Jahrtausenden. Und er glaubt, dass es Zeit sei, eine neue Epoche auszurufen: Bislang gilt das Holozän als jüngster Zeitabschnitt der Erdgeschichte, der etwa 10 000 v. Chr. nach der letzten großen Eiszeit begann. Der niederländische Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen brachte im Jahr 2000 den Begriff des „Anthropozän“ in die Forschung – er wird seitdem unter Geologen kontrovers diskutiert.
„Es muss die Frage geklärt werden, ob der Einfluss des Menschen so groß ist, dass man von einem neuen Zeitabschnitt der Erdgeschichte sprechen kann“, sagt Leinfelder. Er jedenfalls verteidigt die These: „Der Mensch ist sicher ein geologischer Faktor: Es gibt Sandstrände, die zu 40 Prozent aus Plastikgranulat bestehen, wir verarbeiten seltene Metalle und Erden, die nur an wenigen Fundstellen auf der Erde konzentriert vorkommen, und verteilen sie in Mobiltelefonen, Computern und Brennstäben über den ganzen Globus.“ Ob dabei die Industrialisierung Westeuropas, der Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg oder schon das Sesshaftwerden des Menschen in der Jungsteinzeit als Wendemarke gelten sollen, sei zweitrangig. „Es geht um das Bewusstsein, dass der Mensch die Erde entscheidend verändert hat.“
Der Wissenschaftler möchte die Diskussion dabei nicht als akademische Diskussion unter Geologen verstanden wissen, sondern sie interdisziplinär vorantreiben. „Wir wissen, wie der Mensch in der Vergangenheit unbewusst meist negativ in die Naturkreisläufe eingegriffen hat“, sagt er: „Warum sollte es nicht möglich sein, wissensbasiert die Macht des Menschen ins Positive zu drehen?“ Leinfelder bringt Geologen und Designer, Architekten, Historiker und Klimaforscher zusammen; er ist im Leitungsteam des Anthropozän-Projekts, das im Januar im „Haus der Kulturen der Welt“ eröffnet wurde und die Idee der Menschenzeit bis Ende 2014 in Ausstellungen, Konferenzen, Installationen und Experimenten mit wissenschaftlichen und künstlerischen Mitteln auslotet. Als Kunstprojekt wurde dort beispielsweise ein Ochse gebraten – und der sogenannte Stofffluss des Grillfleisches entschlüsselt: Aus welchen Stoffen setzt sich das Fleisch zusammen? Wie viel Kohlendioxid wurde umgesetzt? Wie viel Wasser hat dieser Ochse verbraucht? Wie viel Energie musste aufgewendet werden, bis er gegrillt auf dem Teller lag? „Wir möchten das Bewusstsein dafür schärfen, wie viel Einfluss auch unser Alltag auf den Verlauf der Erdgeschichte hat.“
Auch Schulen und Universitäten müssten dazu ihren Beitrag leisten, sagt Leinfelder. „Unsere Bildungseinrichtungen sind noch immer sehr sektoral gegliedert und zu sehr voneinander abgeschottet. Wir brauchen noch mehr Verknüpfung, interdisziplinäre Zentren und Austausch. Die Exzellenzinitiative hat sicher einen großen Beitrag geleistet, Fachgrenzen zu überwinden.“ Deshalb wünscht er sich ein an der Freien Universität angesiedeltes Zentrum, das Geowissenschaften und Politik, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zusammenbringt, in dem Universalgelehrte ihren Platz haben und Spezialisten zusammenfinden: ein Zentrum für Anthropozän-Forschung. Matthias Thiele
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