Psychosomatik: Was unser Schmerz über die Gesellschaft verrät
Immer mehr Menschen nehmen Schmerzmittel. Dabei will uns das Leiden doch etwas sagen: über uns und unsere Lebensumstände. Ein Essay.
Es gibt einen kleinen Trostvers für Kinder: „Nicht weinen! Nicht weinen! Gleich ist's wieder gut! Das Wehweh soll weggehn, es tut gar nicht gut. Fenster auf – hinaus mit dir! Türen auf – hinaus mit dir! Einmal Regen, einmal Schnee, und schon tut es nicht mehr weh!“ Im Jahr 2018 nimmt jeder dritte Amerikaner opioidhaltige Medikamente, geschätzt 2,5 Millionen sind davon abhängig. Massenhaft wird der Wirkstoff verschrieben, da er effektiv Schmerzen lindert und Ängste löst. Doch den Kampf gegen die Beschwerden bezahlten in den vergangenen zwei Jahrzehnten hunderttausende Patienten mit ihrem Leben. Noch immer sterben in den USA täglich bis zu hundert Menschen an einer Opioid-Überdosis.
Auch in Deutschland steigt der Konsum von starken Schmerzmitteln. Der Pro-Kopf-Verbrauch nähert sich rasant dem der USA. Mundipharma ist eines der deutschen Unternehmen, das Opioide unter dem Markennamen Oxygesic vertreibt. Nebenbei unterstützt es medizinische Forschungsprojekte, wie das auf drei Jahre angelegte Programm „Schmerzfreie Stadt Münster“. Es sind solche Slogans, in denen sich die Allmachtsfantasie der modernen Medizin und Pharmaindustrie widerspiegelt.
Leiden hat oft gesellschaftliche Ursachen
Der schmerzerfüllte Mensch wird pathologisiert, das Leid auf organische Ursachen reduziert, ein medikamentöses Bollwerk gegen den Verdacht errichtet, dass die tagtäglichen Schmerzen sehr viel mit unserer Gesellschaft zu tun haben könnten. Sollten wir alle Leiden mit pharmazeutischer Hilfe aufheben? Oder können wir vom Schmerz vielleicht lernen?
Natürliche Schmerzmittel sind seit der Jungsteinzeit bekannt, doch erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden hocheffektive Medikamente wie Paracetamol oder Aspirin entwickelt. Als Geburtsstunde der modernen Anästhesie gilt das Jahr 1846. Bis zu diesem Zeitpunkt mussten Patienten bei Eingriffen durch Gehilfen festgehalten oder von Fesseln fixiert werden, damit sie sich nicht vor Schmerzen winden.
Diese qualvollen Zeiten sind glücklicherweise vorbei. Es ist ohne Zweifel ein gewaltiger Fortschritt, dass Patienten heute nicht mehr paralysiert vor dem Bohrer des Zahnarztes oder der Klinge des Skalpells sitzen. Gleiches gilt für psychische Schmerzen. 120 Wirkstoffe helfen dabei, Depressionen, Psychosen und Angsterkrankungen zu behandeln. Doch wie bei den Opioiden ist auch hier ein bedenklicher Anstieg zu verzeichnen: Laut dem Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse aus dem vergangenen Jahr hat sich seit 2007 die Verordnung von Antidepressiva in Deutschland verdoppelt.
Der Schmerz ist ein Verbündeter
Bei allem Fortschritt auf dem Feld der Therapien wird oft vergessen, dass der Schmerz ein Verbündeter ist. Ganz profan verstanden ist er ein Signal des menschlichen Körpers: Etwas ist nicht in Ordnung. „Wäre kein Schmerz in der Welt, so würde der Tod alles aufreiben. Wenn mich eine Wunde nicht schmerzte, würde ich sie nicht heilen, und daran würde ich sterben“, schrieb der Dichter Ewald Christian von Kleist bereits im 18. Jahrhundert. Menschen mit einer angeborenen Unempfindlichkeit gegen Schmerz, einer sogenannten kongenitalen Analgesie, fügen sich im Kindesalter oft so große Schäden zu, dass sie früh sterben.
Bei chronischen Schmerzerkrankungen hingegen ist die Signaleigenschaft dysfunktional geworden. Laut der Deutschen Schmerzgesellschaft sind derzeit etwa 17 Prozent der Bevölkerung von langanhaltenden, chronischen Beschwerden betroffen – am häufigsten von Rücken- und Kopfschmerzen. Körperliches und psychisches Leid sind dabei eng verwoben. So treten chronische Schmerzen häufig als Begleiterscheinung von Depressionen, Angststörungen oder anderen psychischen Erkrankungen auf. Vier von fünf Schmerzpatienten, die nicht mehr an den Arbeitsplatz zurückkehren, hatten permanente Alltagsbelastungen und berufliche oder familiäre Konflikte.
Man könnte sagen: Die Anforderungen der uns umgebenden Umwelt schreiben sich schmerzhaft in die Körper ein. Biologische, psychische und soziale Faktoren sind dabei kaum noch auseinanderzuhalten. Sicher ist nur: Das individuelle Symptom weist weit über das subjektive Empfinden hinaus. Durch das Eingebundensein des Einzelnen in einen gesellschaftlichen Apparat ist der Schmerz notwendig Teil des Ganzen. Eine Erkenntnis, die mittlerweile auch in der Pharmaindustrie angekommen ist, wie die Werbung verrät: „Wir haben Arbeit im Kopf, Termine im Nacken und müssen an vieles denken. Kein Wunder, wenn das zu Kopfschmerzen führt.“ (Thomapyrin), „Etwas weniger Schmerz auf dieser Welt“ (Aspirin) oder „Für moderne Menschen – ein modernes Schmerzmittel.“ (Temagin).
Heilung durch bessere Lebensumstände
Vor wenigen Jahren formulierten 21 leitende Ärzte psychosomatischer Kliniken in Deutschland einen „Aufruf zum Leben“. Darin heißt es: „Wir sind erschüttert über die psychosoziale Lage in allen Industrienationen, denn seelische Erkrankungen und psychosoziale Problemlagen sind dermaßen häufig, dass sie trotz einer Zunahme von medizinischen und therapeutischen Versorgungsangeboten bei weitem nicht angemessen behandelt und aufgelöst werden können.“ Was hier anklingt: Eine wirkliche Heilung des Menschen kann nur durch die Heilung seiner Umgebung gelingen. Denn wer täglich an den Bürostuhl gefesselt ist, bekommt irgendwann Rückenschmerzen, der hohe Takt des Alltags führt zu Burnout und das Leistungsparadigma begünstigt Depressionen.
Umgekehrt kann die Gesellschaft nicht weiter das individuelle Leiden ausklammern, schon allein aus volkswirtschaftlicher Perspektive: Chronische Schmerzen verursachen in Deutschland jährlich Kosten in Höhe von 38 Milliarden Euro, die seelischen Erkrankungen 45 Milliarden.
Die Kulturgeschichte des Schmerzes ist so lang, wie der Mensch unter ihnen leidet. Aristoteles, Cicero und Epikur erforschten bereits dessen Ursprung. Mit dem Leiden Jesu wurden sie der Mittelpunkt der christlichen Heilslehre. Und seit jeher scheint das Schöpferische unauflösbar mit dem Schmerz verbunden zu sein. Man denke nur an Munchs „Der Schrei“, Picassos „Guernica“ oder die Arbeiten Frida Kahlos nach ihrem schweren Autounfall. Bisweilen schlägt die Annäherung des Künstlers dabei aber in Affirmation um.
Die Wunden der Gesellschaft
Schmerz als Motor der Kritik
Der Schriftsteller Ernst Jünger heroisierte den Schmerz als „Sinngehalt des Lebens“, für den Philosophen Martin Heidegger ist er gar der „Grundriss des Seins“. Doch irgendwann starben dann die Künstler an Schmerzmitteln. Prominente Beispiele sind Marilyn Monroe, Elvis Presley, Heath Ledger, Michael Jackson oder Tom Petty.
Der Soziologe Georg Simmel staunte einst darüber, wie wenig man der Geschichte der Philosophie die Leiden der Menschheit anmerke. Vom Spartakusaufstand bis zur Französischen Revolution – geschichtlicher Fortschritt meldete sich immer dann an, wenn Menschen ihr Leiden artikulierten, es lokalisierten und schließlich überwanden. Doch wo die Erfahrung am Schmerz unmöglich ist, entwickelt sich keine Erkenntnis.
Leid ist der Ausgangspunkt eines Reflexionsprozesses. Das bedeutet nicht, dass unnötige Qualen ertragen werden sollten, wohl aber die Suche nach der Quelle des Schmerzes angestrengt werden könnte: „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit“, schreibt Theodor W. Adorno. „Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, das Leiden nicht sein, dass es anders werden solle. ’Weh sprich: vergeh’.“ Er betrachtet Schmerz als Motor der Kritik: „Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas.“
Glücklich der, der ein Symptom hat
Doch in dem Maße, wie in der modernen Industriegesellschaft der Umgang mit Schmerz durch die vielfältigen Möglichkeiten der Betäubung verlernt wurde, scheint auch die Möglichkeit eines Lernprozesses verstellt. Steigender Tablettenverbrauch, wachsender Medienkonsum, gigantische soziale Netzwerke: Die Ablenkung, das Außer-sich-sein, die Selbstentfremdung ist vielfach so ausgeprägt, dass das Empfinden von Leid als krankhaft oder widernatürlich wahrgenommen wird. „Die Normalsten sind die Kränkesten. Und die Kranken sind die Gesündesten“, stellte der Sozialpsychologe Erich Fromm fest. „Der Schmerz ist nur ein Symptom. Glücklich der, der ein Symptom hat.“
Ist die Betäubung des Einzelnen also nur ein Ausdruck der offensichtlichen Verwirrung des gesellschaftlichen Ganzen? Nicht der Mensch ist schizophren und krisenhaft, sondern die Form, in der er lebt, seine gesellschaftlichen Daseinsbedingungen, eine Welt der Widersprüche. Warum droht mir der soziale Abstieg, obwohl ich mich in einem Ganztagsjob abmühe? Warum steht meine persönliche Selbstentfaltung meist den Anforderungen der modernen Arbeitswelt entgegen, obwohl wir in einer Gesellschaft des Überflusses leben? Warum erlöst uns die Technik nicht, sondern beschleunigt unser Leben zusätzlich?
Sigmund Freud identifizierte einst drei Quellen des menschlichen Leidens: „Die Übermacht der Natur, die Hinfälligkeit unseres eigenen Körpers und die Unzulänglichkeiten der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln.“ Der Tod und die Verwundbarkeit des Menschen sind trotz aller medizinischer Fortschritte bis auf weiteres unverrückbare Gegebenheiten. Indes könnten die anderen genannten Ursprünge von Schmerz und Leid geschichtlich überwunden werden: In den westlichen Industrienationen müsste heute niemand mehr Hunger, Durst und Kälte fürchten.
Die Quelle des Leids ist meist menschengemacht
Die fortschreitende Naturbeherrschung durch Wissenschaft und Aufklärung hat dieses einst verhängte Schicksal in die Hände des Menschen gelegt. Sicherlich sind viele noch immer von Naturkatastrophen und unheilbaren Krankheiten betroffen, doch die weitaus größere Quelle des Leids ist das menschengemachte.
Die Wunden der Gesellschaft werden noch immer organisiert überspielt. Das Opium für das Volk ist schon lange nicht mehr die Religion. Es ist die Ideologie, dass wir alles erreichen können, wenn wir nur wollen. Es ist die gigantische Unterhaltungsindustrie, die die Möglichkeit von ästhetischer Erfahrung auf eine triviale Konsumentenrolle zusammenstreicht. Es sind die Wohltätigkeitsveranstaltungen, auf denen das Wissen um die Ungerechtigkeiten dieser Welt mit dem Ausstellen eines Spendenschecks übertüncht wird.
Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich erkannte in seiner „Massenpsychologie des Faschismus“ einen grundlegenden Zusammenhang zwischen der Unterdrückung menschlicher Triebe und dem Aufkommen faschistischer Ideologien. Der daraus resultierende menschliche Charakter sei tendenziell entfremdet und angepasst. Er kann weder für sich, noch für Mitmenschen Empathie aufbringen. Die Erziehungswissenschaftlerin Alice Miller war sogar überzeugt: „In jedem noch so schrecklichen Diktator, Massenmörder, Terroristen steckt ausnahmslos ein einst schwer gedemütigtes Kind, das nur dank der absoluten Verleugnung seiner Gefühle der totalen Ohnmacht überlebt hat.“ Andersherum: Die vollends betäubte Welt bereitet den Weg für den Triumph des Unmenschlichen.
Das Wegdrücken ist an seine Grenze gekommen
Heute arbeiten Therapeuten in der tiefenpsychologischen Praxis mit dem Modell des „Inneren Kindes“. Dabei gehen sie davon aus, dass schmerzhafte frühkindliche Erfahrungen, die nicht ausgelebt werden konnten, im Gehirn gespeichert werden. Diese abgespaltenen Emotionen wie Traurigkeit, Angst oder Wut sollen unter therapeutischen Bedingungen dem Bewusstsein wieder zugänglich gemacht werden. Das Durchleben der unbewussten seelischen Wunden führt zu Verarbeitung und Heilung. Erst dann ist ein verantwortlicher Umgang mit sich selbst und anderen möglich.
Auch die Gesellschaft muss sich den Wunden der Vergangenheit und Gegenwart annehmen, die dysfunktionalen Glaubenssätze und Lebensmuster aufspüren und sich einer radikalen Selbstkritik unterziehen. Der Schmerz ist dafür der unumgängliche Ausgangspunkt, wird er doch auf wundersame Weise umso manifester, desto weniger Raum wir ihm in unserem Leben geben. Doch das Wegdrücken ist an seine Grenze gekommen. Durch psychosomatische Beschwerden und psychische Erkrankungen drängt das Leid mit aller Macht ins Bewusstsein zurück.
Sich ihm zu stellen, es zu seinem Recht kommen zu lassen, könnte gleichsam das Moment seiner Überwindung sein: Das hieße wiederum, die Fenster und Türen zu öffnen, den Schmerz hereinzubitten, sich der Geschichte anzunehmen, die er zu erzählen hat. Vielleicht dauert es länger als „einmal Regen, einmal Schnee“, doch eines fernen Tages könnte es dann wirklich nicht mehr weh tun.