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Eine Datenuntersuchung beschreibt den "Babysitter-Effekt"
© Kzenon/Panthermedia/Imago

Welche Maßnahme hat welchen Erfolg?: Was der Anstieg der Todesfälle bei Senioren mit Kita-Schließungen zu tun hat

Wie wirken sich bestimmte Corona-Maßnahmen auf die Infektions- und Sterbezahlen aus? Das wollten Datenanalysten herausfinden.

Daten können in der Pandemie eine wichtige Hilfe sein. Aber reichen die bisher erhobenen dafür zu beurteilen, welche Maßnahmen welche Effekte bei der Pandemie-Eindämmung erzielen? Die Forderung, solche Zusammenhänge zu evaluieren, gibt es seit Beginn der Pandemie – mit bis heute aber sehr dürftigen Ergebnissen.

Der Sozialforscher und Direktor des Centrums für Evaluation, Reinhard Stockmann, zum Beispiel plädierte kürzlich dafür, die verfügbaren Instrumente der Empirie und Evaluation einzusetzen, „weil wir viel zu wenig wissen, wo sich die Menschen infizieren“. Das gilt nach wie vor.

Das Robert Koch-Institut (RKI) will demnächst die Ergebnisse der Stoppt COVID-Studie präsentieren, die in Zusammenarbeit mit der Universität Bielefeld gerade erarbeitet wird. „Über die Beiträge der einzelnen Public Health Maßnahmen – wie Kontaktreduktion, Tragen einer Alltagsmaske oder Schulschließungen zur Kontrolle der epidemiologischen Dynamik ist wenig bekannt“, begründet das RKI die Studie, „und bisher ist der Effekt einzelner Maßnahmen nicht systematisch analysiert worden.“

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Bis man erste Ergebnisse präsentieren kann, erklärte der Studienverantwortliche Kayvan Bozorgmehr auf Anfrage von Tagesspiegel Background, werde es aber noch mindestens zwei Monate dauern – diese Ergebnisse bezögen sich dann auf die ersten beiden Corona-Wellen. Die komplette Studie sei sogar erst Ende des Jahres zu erwarten.

Nun prescht ein Unternehmen vor. Das auf Big-Data-Analysen spezialisierte Oldenburger Start-up „Hase und Igel hat eine umfangreiche statistische Analyse mit Hilfe von öffentlich verfügbaren Datensätzen des RKI durchgeführt und auf Basis der Verordnungen von Bund und Ländern eine Datenbank aufgebaut. In der ist vermerkt, wann und wo welche Corona-Maßnahmen galten.

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Nach Angaben von Jan Schoenmakers, dem Geschäftsführer des Unternehmens, gab es eine solche Datenbank bisher nicht. Die Untersuchung ist als Whitepaper hier veröffentlicht worden. Die Befunde dürften polarisieren, vor allem die Erkenntnisse über die Auswirkungen von Kita-Schließungen auf das Infektionsgeschehen. Immer wieder wurde in der Vergangenheit diskutiert, ob diese Maßnahme das Ansteckungsrisiko mindert oder unter bestimmten Umständen sogar zu einem erhöhten Infektionsrisiko führt.

Der „Babysitter-Effekt“ 

Schoenmakers Analyse deutet nun darauf hin, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit einen „Babysitter-Effekt“ gibt: In den Daten zeigt sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen Kita-Schließungen und einem zeitlich verzögerten Anstieg der Todesfälle in den Altersgruppen der 60- bis 79-Jährigen und der über 80-Jährigen. Der Verdacht: Wenn Kitas geschlossen sind, müssen berufstätige Eltern ihre Kinder oft mangels Alternativen in die Obhut der Großeltern geben.

Die Analyse:

  • „Hase und Igel“ hat die RKI-Daten zum Infektionsgeschehen von 2020 mit den zu verschiedenen Zeiten angewandten Corona-Maßnahmen zusammengeführt und statistisch für verschiedene Altersgruppen auf wechselseitige Zusammenhänge untersucht. 
  • Anschließend wurden solche Zusammenhänge in sogenannten Regressionsmodellen überprüft, mit denen die Beziehungen von verschiedenen Effekten zueinander in unterschiedlichen Kombinationen bestimmt werden können.
  • So sind Datenanalysten in der Lage, auf bestimmte Wechselwirkungen zu schließen: Etwa, ob eine sinkende Infektionsrate in einer bestimmten Altersgruppe jenseits reiner Zufallseffekte liegt, ob sie mit der Einführung einer Schutzmaßnahme zusammenhängt und wie stark dieser Zusammenhang ist.
  • Nicht berechnet werden können, so Schoenmakers, dabei Effekte wie die Vorwegnahme von Maßnahmen durch die Menschen, oder auch das Ignorieren von Maßnahmen. 

Der Befund des „Babysitter-Effekts“ erhärte sich, so Schoenmakers, wenn man betrachte, wie Infektionen in den verschiedenen Altersgruppen untereinander zusammenhingen. Konkret geht es bei solchen Analysen um die Frage, wie stark bestimmte Beobachtungen dafür taugen, um Prognosen für deren Wirkung auf andere Entwicklungen zu machen: Beispielsweise also, wie wahrscheinlich man die Infektionsraten von Kleinkindern heranziehen kann, um Infektionsraten von 80-Jährigen vorherzusagen. 

„Soweit man es rein statistisch – also ohne klinische Studien und Kontaktnachverfolgung – bewerten kann, stecken sich Kinder primär untereinander an, während die Infektionen bei Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren stärker miteinander in Zusammenhang stehen als mit denen von Kindern“, sagt Jan Schoenmakers.

Betrachte man jedoch den Zusammenhang zwischen Infektionen der verschiedenen Altersgruppen und Sterbefällen von Senioren, zeige sich, dass die Todesfallzahlen bei über 80-Jährigen stärker auf Infektionen von Kindern reagierten als auf jene von Erwachsenen. 

Man habe auch die Gegenhypothese geprüft – so könnten theoretisch die Kitaschließungen auch immer dann beschlossen worden sein, wenn die Todesfälle gerade sehr hoch waren. Statistisch sei der Effekt andersherum aber deutlich stärker messbar gewesen.

„Dies bedeutet nicht, dass hier die meisten Übertragungen stattfinden“, betont Schoenmakers. So sei etwa auch denkbar, dass sich die Großeltern beim Babysitten nicht bei den Kindern selbst, sondern bei deren Eltern ansteckten, die das Virus aus dem Büro mitbrächten. Statistisch gesehen sei der Großteil der tödlichen Infektionen unter Senioren auf Ansteckungen in Altersheimen, Restaurants und anderen Umgebungen zurückzuführen, nicht auf ihre Enkel.

Dennoch gehören Kita-Schließungen zu den fünf staatlich angeordneten Maßnahmen, die sich laut Schoenmakers Analyse am stärksten auf die Entwicklung der Todesfälle eingewirkt haben, allerdings negativ: Die Veranlassung von Kita-Schließungen scheint mit hoher Wahrscheinlichkeit zu mehr Toten zu führen als das Offenhalten von Kitas.

Die wirkungsvollsten Maßnahmen zur Verhinderung von Todesfällen waren demnach:

  • die Schließung der Gastronomie
  • die Schließung nicht lebensnotwendiger Geschäfte
  • Kontaktbeschränkungen
  • Ausgangsbeschränkungen
  • die Corona Warn-App

Der Effekt der Warn-App ist überraschenderweise deutlich größer als die Verhängung einer Tragepflicht für sogenannte Alltagsmasken. Das heißt nicht, dass das Tragen von Alltagsmasken wirkungslos wäre, sehr wohl jedoch, dass er Effekt deutlich geringer zu sein scheint als bei anderen Maßnahmen. 

Die Schließung von Grundschulen und weiterführenden Schulen hat laut der Datenstudie nur eine sehr geringe Wirkung auf die Infektionszahlen und eine „nicht signifikante“ Auswirkung auf die Sterbefallzahlen in der Gesamtbevölkerung.

Komplett voneinander trennen ließen sich die Maßnahmen, die oft gleichzeitig verhängt wurden, mit ihrem Modell nicht, räumt Schoenmakers ein. Hinzu komme, dass sich die unterschiedlichen Altersgruppen gleichzeitig infizierten, die Datenpunkte also nicht unabhängig voneinander seien.

Gleichwohl sei ihre Studie, auch durch den Flickenteppich an Regelungen in den deutschen Bundesländern, deutlich feiner granuliert als andere, etwa die Oxford-Studie, die im vergangenen Jahr die Maßnahmen und ihre Effekte in verschiedenen Ländern untersucht hat.

Start-up deckte bereits Missstände bei Google Trends auf 

„Hase und Igel“ arbeitet eng mit Wissenschaftlern von verschiedenen Hochschulen zusammen. Im vergangenen Frühjahr fand das Unternehmen bei Modellierungsrechnungen auffällige Unregelmäßigkeiten in den Zahlen von Google Trends. Später veröffentlichte das Start-up zusammen mit dem L3S Research Center der Universität Hannover und der Abteilung Very Large Business Applications der Universität Oldenburg ein im Peer-Review-Verfahren geprüftes Paper, in dem der Ursprungsbefund anhand einer Vielzahl von Beispielen bestätigt wurde. 

Auch zu der nun vorliegenden Analyse über die Wirksamkeit von Corona-Maßnahmen bereitet „Hase und Igel“ eine wissenschaftliche Publikation vor. Er hoffe, dass ihre Ergebnisse nun diskutiert würden, gern auch kontrovers, so Schoenmakers. 

„Dass es bis dato keine umfassenden, zentralen Übersichten gab, welche staatlichen Maßnahmen wann und wo verordnet wurden, ist ein eklatanter Mangel an Rechenschaft.“ Es sei eigentlich nicht seine Aufgabe, dieses Problem nach mehr als einem Jahr der Pandemiebekämpfung zu lösen.

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