Die Psychologie der Corona-Bekämpfung: Warum wir immer wieder die gleichen Fehler machen
In der Corona-Pandemie ist es uns bislang nicht gelungen, mal vor eine Welle zu kommen. Das hat auch verschiedene psychologische Ursachen. Ein Gastbeitrag.
Der Gastautor dieses Textes, Georg Vielmetter, ist Philosoph und Soziologe. Er arbeitet als Berater, Coach und Autor. Kürzlich ist sein Buch "Die Post-Corona-Welt" im Campus-Verlag erschienen.
Erinnert sich noch jemand? Noch vor wenigen Monaten forderte der Kassenärztechef Andreas Gassen einen "Freedom Day", die Abschaffung aller Corona-Maßnahmen, für den 30. Oktober 2021 – so als hätten wir uns in Fesseln befunden, und nicht bereits in der vierten Pandemiewelle.
Der damals geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn sah das Ende der "epidemischen Lage von nationaler Tragweite" – zur gleichen Zeit, als die Weltgesundheitsorganisation die pandemische "Notlage von internationaler Tragweite" erneuerte. Und vor wenigen Wochen verkündete der jetzige Justizminister Marco Buschmann mit breiter Brust, dass im März 2022 alle Corona-Maßnahmen auslaufen werden.
Natürlich werden sie das nicht, und auch der "Freedom Day" des Orthopäden Gassen bleibt auf längere Sicht seine Privatphantasie. Es hat in der Pandemie hunderte solcher Fehleinschätzungen gegeben. Ministerpräsidenten, die ernsthaft meinten, das Virus mache einen Bogen um ihr Land. Regierungen, die garantiert einen weiteren Lockdown ausschlossen.
Warum ist das so? Wieso kommt es so häufig zu drastischen Fehleinschätzungen, die nicht auf einem Mangel an verfügbarem Wissen beruhen? Weshalb lernen wir nicht aus unseren Fehlern?
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Für die höchstens mittelmäßige Performance Deutschlands in der Bekämpfung der Corona-Pandemie gibt es viele systemisch-strukturelle Gründe, auf die ich hier nicht eingehen kann (Stichworte: Strategie- und Kommunikationsdefizite, demokratische Trägheit, Föderalismus, Verantwortungsdiffusion, mangelhafte Digitalisierung). Auch soll es nicht um die manchmal heikle Frage der richtigen Interpretation wissenschaftlichen Wissens gehen.
Vielmehr wird hier einigen grundlegenden kognitionspsychologischen Phänomenen nachgegangen. Denn es sind im Wesentlichen vier immer wiederkehrende Fehler, deren tückisches Zusammenspiel uns permanent ausmanövriert, klares Denken verhindert und schließlich zu fehlerhaftem Handeln in der Bekämpfung der Pandemie verleitet. Schauen wir uns sie an.
Normalitätsverzerrung (normalcy bias)
Als ich vor zwei Jahren zum ersten Mal von einem "neuartigen Virus" in China hörte, ließ mich das ziemlich kalt. Dann gab es im Februar den ersten lokalen Ausbruch in Bayern, Meldungen über Einzelfälle in den USA, Frankreich und Italien. Es war klar, dass das Virus sich weltweit verbreitete. Aufgeregt habe ich mich über das RKI, das die Gefahr für Deutschland als gering einstufte, weil es keine Direktflüge aus Wuhan gebe, gleichzeitig aber mit vielen Fällen rechnete.
Und was habe ich damals getan? Gar nichts. Weder Aktien ver- noch Gold gekauft, weder einen Vorrat an Masken noch an Lebensmitteln angelegt. Über andere Handlungskonsequenzen nachgedacht? Fehlanzeige.
Psychologen nennen das den normalcy bias. Wir mögen ein Problem vielleicht noch erkennen, aber wir reagieren nicht oder nur sehr langsam. Oft dann zu spät. Das Risiko bleibt uns gedanklich und emotional seltsam fern; es bleibt eine abseitige, abstrakte Störung außerhalb der Routinen, Gewohnheiten und Sicherheiten unserer alltäglichen Lebenswelt.
Wir wollen, dass die Welt weitergeht, wie wir sie kennen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Darum sind die Leute nicht vor dem Hurrikan Katrina in Louisiana geflüchtet; darum war für die Besatzung der Titanic ein Sinken genauso unvorstellbar wie für die Ingenieure in Fukushima die Kernschmelze. Weil wir es uns kaum anders vorstellen können.
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Verstärkend gesellt sich der Herdentrieb dazu. In meinem Verhalten tendiere ich unbewusst dazu, mich an anderen in meiner Umgebung zu orientieren. Auch das haben Psychologinnen gezeigt: Wenn ich mich allein in einem Raum befinde, in dem sich plötzlich merkwürdiger Rauch entwickelt, tendiere ich dazu, ihn zu verlassen. Sind andere Menschen mit im Raum, sinkt diese Bereitschaft. Ich schaue nach Hinweisen von anderen; wenn da nichts kommt, tue ich auch nichts. Und da kam erst einmal nichts.
Optimismusverzerrung (optimism bias)
Ähnlich gelagert wie der normalcy bias ist der optimism bias. Kurz gesagt: Während die Normalitätsverzerrung dafür sorgt, dass wir oft denken, es werde schon nichts passieren, führt die Optimismusverzerrung dazu, dass wir glauben, uns werde schon nichts passieren. Auch das haben Psychologen in empirischen Studien gut belegt.
Selbst wenn wir glauben, dass die Anzahl von Verbrechen steige, deutsche Autobahnen gefährlich seien oder ein Virus uns bedrohe, glauben sehr viele Menschen gleichzeitig, nicht persönlich davon betroffen zu sein.
Ein frisches Beispiel für die vernebelnde Wirkung einer Kombination von normalcy bias und optimism bias bietet das Verhalten des sachsen-anhaltinischen Ministerpräsidenten Reiner Haseloff in der Ministerpräsidentenkonferenz am 7. Januar 2022.
Die Verschärfung der Zugangsbedingungen für die Gastronomie auf 2G+ machte er nicht mit. Begründung: Omikron sei in Sachsen-Anhalt kaum verbreitet. Das "neue Normal" ist in Sachsen-Anhalt Delta, und die Optimismusverzerrung führt dann offenbar zu dem Glauben, dass Omikron einen Bogen um Sachsen-Anhalt macht. Wir alle wissen, dass das nicht der Fall ist.
Nebenbei bemerkt: Dr. Haseloff ist promovierter Physiker; er hat über Entwicklung von Messgeräten in der Umweltkontrolle promoviert. Akademische Bildung schützt also nicht vor Normalitäts- und Optimismusverzerrungen. Seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse bleiben außen vor, wenn er sagt, dass "jedes Land seine eigenen Regeln" habe, und es keinen Sinn mache, "einen Schraubenschlüssel auf die falsche Mutterngröße zu setzen". Das mit den Regeln muss man dem Corona-Virus noch erklären. Und dass die Schraubenschlüssel regelmäßig zu klein sind, ist eine Folge der Optimismusverzerrung. Dies führt uns zum nächsten kognitiven Fehler.
Exponentielle Kurzsichtigkeit
An dem Tag, als Ministerpräsident Haseloff die Geschichte mit dem Schraubenschlüssel als Erklärung für die Ablehnung verschärfter Maßnahmen erzählte, berichtet er von 50 dokumentierten Omikron-Fällen in seinem Land. Aber eine Woche davor, Sylvester 2021, waren es erst fünf. Und eine Woche später, am 14. Januar 2022, bereits 278. Das nennt man exponentielles Wachstum.
Und es ist genau der gleiche Mechanismus, der Sachsens Ministerpräsident Kretschmer ereilte, als er im Oktober 2020 vor Hysterie warnte und ebenfalls meinte, keine neuen Regeln zu brauchen. Auch damals hatte das exponentielle Wachstum bereits begonnen, und acht Wochen später zog er angesichts von Übersterblichkeit und überforderten Intensivstationen die Reißleine: harter Lockdown.
All dies verweist auf einen wiederkehrenden Denkfehler, dem fast alle Menschen unterliegen (offenbar selbst Physiker) und den der britische Ökonom und Journalist Tim Harford "exponentielle Kurzsichtigkeit" genannt hat. Das klassische Beispiel zur Veranschaulichung einer Exponentialfunktion ist die Weizenkornlegende, hier in der Kurzform: Wenn wir ein Weizenkorn auf das erste Feld eines Schachbretts legen, und dann mit jedem Feld verdoppeln (auf dem zweiten Feld zwei, dem dritten vier Körner usw.) – wie viele Weizenkörner liegen auf dem letzten, dem 64. Feld? Wir mögen es nicht glauben, es sind 264-1 oder 18.446.744.073.709.551.615 (≈18,45 Trillionen) Weizenkörnern. Das sind etwa 730 Milliarden Tonnen Weizen und entspricht der tausendfachen weltweiten Weizenernte des Jahres 2014/2015.
Dafür fehlt uns jede Intuition. Wir sind exponentiell kurzsichtig.
Hätten wir es nicht mit Weizenkörnern, sondern mit einem Virus zu tun, würden wir von einer Exponentialfunktion mit der Reproduktionsrate R0=2 sprechen (weil sich die Weizenkörner jeweils verdoppeln). Nach britischen Studien können wir für die Omikron-Variante von einem R-Wert von etwa 4 ausgehen. Dann dauerte es – ungebremst - weniger als sieben Wochen, bis ganz Sachsen-Anhalt von der Omikron-Variante infiziert wäre. Es sei denn, wir dämmten es mit dem großen Schraubenschlüssel ein.
Übrigens: Am Ende war das Virus dann sogar noch schneller. Denn bereits am 1. Februar, nur drei Wochen, nachdem Dr. Haseloff meinte, die Omikron-Variante spiele in seinem Land keine Rolle, betrug deren Anteil an allen Covid-Infektionen in Sachsen-Anhalt lockere 97 Prozent.
Bei exponentiell wachsenden Funktionen wie einer Virusinfektion hilft es nicht, darauf zu verweisen, dass wir "ja nur ein paar Dutzend Fälle haben". Daraus werden schnell Millionen. Aber weil wir keinen Sinn für Exponentialität haben, unterstützt diese Kurzsichtigkeit unsere Normalitäts- und Optimismusverzerrungen. Wenn wir dann doch Maßnahmen ergreifen, ergibt sich häufig der nächste Fehlschluss.
Präventionsparadox
Ich lege im Auto den Sicherheitsgurt an, damit ich im Falle eines Unfalls nicht durch die Scheibe fliege. Ich balanciere nicht auf der Klippe, damit ich nicht hinunterstürze. Weil das viele tun, fliegt kaum noch jemand durch die Scheibe oder stirbt durch einen Klippensturz. Nur wenige würden daraus allerdings den Schluss ziehen, Klippen seien ungefährlich.
Anders die Reaktion vieler bei Impfungen oder den Covid-Schutzmaßnahmen. Breitflächige Impfungen sorgen für das Abnehmen einer Krankheit; sie verschwindet tendenziell aus dem Bewusstsein. War die Krankheit dann eigentlich so schlimm? Covid-Schutzmaßnahmen haben die Verbreitung des Virus eingeschränkt; die Worst-Case-Szenarien traten nicht ein. War das dann nicht alles übertrieben und Corona doch nicht schlimmer als eine Grippe?
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Prävention führt dazu, dass etwas nicht passiert, also alles weitgehend so bleibt, wie es ist. Anders als das Anlegen eines Sicherheitsgurtes ist eine Schulschließung oder Einschränkung in der Gastronomie aber kein Normalfall, kein routinisiertes, automatisiertes Verhalten. (Das war es beim Gurt übrigens auch nicht immer, wovon Millionen nahezu hysterische Sicherheitsgurtverweigerer 1976 ein Beispiel geben.)
Wir ergreifen eine unangenehme Maßnahme, um das große Ganze aufrechtzuerhalten. Der emotionale Preis dafür, dass etwas nicht passiert, ist hoch. Die Schuld dafür geben wir der Maßnahme und verstehen nicht, dass etwas nicht passiert ist, weil vorbeugend gehandelt worden ist.
Präventionsparadox und exponentielle Kurzsichtigkeit verschränken sich dabei auf unglückliche Weise und führen zu einer doppelten Unterschätzung: Wir unterschätzen zum einen massiv die mögliche zukünftige Gefahr, und wir unterschätzen zum anderen den Einfluss unserer Vorbeugemaßnahmen.
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Die Folge: Normalitäts- und Optimismusverzerrungen verstärken sich. Unser psychologisches Setup schlägt uns ein Schnippchen, wir machen immer wieder die gleichen Fehler und kommen nicht vor die Welle. Immer wieder handeln wir zu spät, unzureichend oder gar nicht. Denn blöderweise hält sich das Virus nicht an die Regeln der Staatskanzleien.
Eine Pandemie führt zu komplizierten, gelegentlich dilemmatischen Wertekonflikten und Entscheidungssituationen. Das allein ist schon Bürde genug, und in der Haut von Politikerinnen möchte man nicht stecken. Was wir aber erwarten können ist eine Orientierung an der Wissenschaft, Austausch von Argument und Gegenargument, schließlich möglichst rationale Entscheidungen.
Das geht aber nur dann, wenn wir uns unserer eigenen kognitiven Unzulänglichkeiten und Verzerrungen bewusst werden und versuchen, dazu in kritische Distanz zu treten. Nur dann können wir lernen. Bei Beiträgen à la "Jedes Land hat seine eigenen Regeln" und von Schraubenschlüsseln, die nicht auf Muttern passen, wendet man sich hingegen im besten Fall ermüdet, im schlimmsten empört ab.
Georg Vielmetter
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