Gestorben „mit“ oder „an“ Covid-19?: Warum in Deutschland so wenige Corona-Tote obduziert werden
Wann jemand als Corona-Toter in die Statistik eingeht, ist in Deutschland nicht ganz eindeutig. Das RKI und die Stadt Hamburg etwa zählen unterschiedlich.
Wie gefährlich ist das neue Coronavirus wirklich? Während es in Norditalien, in Madrid und im US-Bundesstaat New York besonders heftig wütet und täglich hunderte Todesfälle nach sich zieht, sind hierzulande – Stand Freitag – mehr als 2.500 Menschen an einer SARS-CoV-2-Infektion gestorben. Differenziert, ob jemand „an“ oder „mit“ der Infektion gestorben ist, wird aktuell fast nirgendwo in Deutschland – vor allem, weil das Robert Koch-Institut (RKI) von Obduktionen abrät.
Die Berufsverbände der Pathologen und der Rechtsmediziner halten diese hingegen für dringend geboten, weil damit geklärt werden könne, in welchem Umfang innere Organe von der Infektion betroffen sind und welche Risikofaktoren bei näherer Betrachtung eine Rolle spielen.
Kathrin Grimmer, Sprecherin des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), stellt sich hinter das RKI, das alle Verstorbenen mit nachgewiesener SARS-CoV-2-Infektion in der Statistik der Corona-Toten führt.
Das RKI weise „darauf hin, dass eine innere Leichenschau, Autopsien oder andere aerosolproduzierenden Maßnahmen vermieden werden sollten“, so Grimmer. Das LGL mache daher bei der Veröffentlichung der bayerischen Fallzahlen deutlich, dass sowohl Personen, die an Corona gestorben sind als auch solche, die mit Corona gestorben sind, nach dem Infektionsschutzgesetz Eingang in die Zählung fänden.
Das gleiche Vorgehen vermeldet auch das Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg. Wie Sprecher Markus Jox erklärt, werden Leichenschauen üblicherweise von einem niedergelassenen Mediziner oder einem Krankenhausarzt durchgeführt. Bei Feuerbestattungen müsse in Baden-Württemberg zusätzlich eine ärztliche Bescheinigung eingeholt werden.
„Das LGA selbst ist nicht eingebunden in die Leichenschauen; zuständig sind im Land die örtlichen Gesundheitsämter, in deren Zuständigkeitsbereich ein Krematorium fällt“, so Jox. Die meisten Ämter hätten die zweite Leichenschau an gerichtsärztliche Institute, Pathologen oder Rechtsmediziner im Einzugsbereich delegiert. „Unserer Kenntnis nach werden die Ergebnisse der zweiten Leichenschauen nicht systematisch erfasst.“
Auch das Landeszentrum für Gesundheit in Nordrhein-Westfalen folge dem Vorgehen des RKI, so der Sprecher des dortigen Gesundheits- und Sozialministeriums, Axel Birkenkämper. „Gezählt werden also auch die Fälle, bei denen nach Einschätzung des Arztes/der Ärztin die SARS-CoV-2-Infektion zwar zum Tode beigetragen hat, aber auch noch andere Faktoren eine Rolle spielten.“
Die Feststellung der Todesursache sei auch nach sorgfältig durchgeführter Leichenschau häufig schwierig, so Birkenkämper, sodass die konkrete Todesursache oft unklar bleibe. Erschwerend komme hinzu: „Obduktionen werden nicht bei allen Verstorbenen durchgeführt.“
Rechtsmediziner kritisieren RKI-Vorgaben
Reinhard Dettmeyer, Präsident des Berufsverbandes Deutscher Rechtsmediziner, dagegen pocht darauf, dass Klarheit nur durch Obduktionen möglich sei. Die Tatsache, dass mehr ältere Menschen an einer Corona-Infektion sterben, zeige, dass Vorerkrankungen eine Rolle spielten.
„Es gibt also eher jüngere, nicht vorerkrankte Menschen, die nach Entwicklung einer Pneumonie ,durch‘ beziehungsweise ,aufgrund‘ der Infektion versterben“, so der Rechtsmediziner. Je nach Schweregrad der Vorerkrankungen gebe es aber auch Menschen, die beispielsweise an einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall bei einer SARS-CoV-2-Infektion sterben. Die Infektion werde dann als „auslösende Gelegenheitsursache“ bezeichnet.
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„In beiden Fällen wäre der Mensch – häufig, wenn auch nicht immer – aber ohne die SARS-CoV-2-Infektion nicht zum gegebenen Zeitpunkt verstorben“, so der Arzt des Universitätsklinikums Gießen. Insofern könne man auch sagen, dass er „an“ der Infektion gestorben sei. Dettmeyer weist jedoch auch darauf hin, dass im Einzelfall eine andere Erkrankung als die Infektion derart dominieren könne, dass der Infektion eine untergeordnete Bedeutung zukomme. Dasselbe gelte für die Influenza-Pneumonie oder andere Infektionserkrankungen.
Hier mehr Klarheit zu schaffen, hat sich Hamburg vorgenommen. In der Hansestadt werden „alle Todesfälle mit Corona-Infektion durch das Institut für Rechtsmedizin begutachtet“, sagt Jessica Kratt, Sprecherin der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz. „Dadurch wird medizinisch differenziert nachgewiesen, welche nicht nur mit, sondern ursächlich durch eine Covid-19-Erkrankung gestorben sind.“ Die Hansestadt stellt sich gegen die Empfehlungen des RKI, wonach Obduktionen von Corona-Infizierten auf ein Minimum beschränkt werden sollen.
Epidemiologin warnt vor falschen Schlüssen
Auch bei der Kremationsleichenschau, der sogenannten zweiten Leichenschau, empfiehlt das RKI „eine strenge Nutzen-Risiko-Abwägung“, da diese „bei Vorliegen von Covid-19 ein zusätzliches Infektionsrisiko“ berge. Diese Vorgaben werden von den Pathologen wie auch den Rechtsmedizinern kritisiert, „weil dort unseres Erachtens ohne Not zu restriktiv vorgegangen wird“, sagt Reinhard Dettmeyer. Bei Beachtung der ohnehin üblichen Regeln für die Hygiene und den Schutz bei Obduktionen könnten auch an Covid-19 Verstorbene obduziert werden. „Es wäre gut, dies zu betonen, weil es in den sozialen Medien schon das Gerücht gibt, jetzt könne man gut einen Mord begehen, die Rechtsmedizin würde ja nicht obduzieren.“
Die aktuelle Obduktionsquote sei in Deutschland ohnehin „erschreckend niedrig und dürfte deutlich unter zehn Prozent bei allen Verstorbenen liegen“. Das habe auch juristische Gründe, weil die Regelung der klinischen Obduktionen landesrechtlich geregelt sei – und das nur unvollständig und uneinheitlich.
Doch was bedeuten die verschiedenen Zählweisen für die Bewertung der Gefährlichkeit der Pandemie? Die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie, Eva Grill, warnt vor falschen Schlussfolgerungen. Die Meldung, dass in Italien alle Todesfälle gezählt werden, egal ob sie „mit“ oder „an“ Corona gestorben sind, habe zu der Kritik geführt, dass das Virus gar nicht so gefährlich sein könne.
„Wenn aber dann in einer kleinen italienischen Stadt plötzlich nicht mehr 30 Personen in den ersten zwei Monaten versterben, wie im Jahr zuvor, sondern 160, und wenn die Zahl der Todesfälle die Kapazitäten der Beerdigungslogistik übersteigt, dann kann es nicht nur an der Falldefinition liegen“, so die Münchner Professorin.