Anna Ijjas zweifelt den Urknall an: Warum das Universum viel kleiner werden könnte als ein Virus
Unser Kosmos entstand anders, als es in Lehrbüchern steht, glaubt die Kosmologin Anna Ijjas. Sie geht von einem „Urprall“ aus. Doch ihre Theorie ist umstritten.
Es klingt verwegen: Unser Universum begann nicht mit dem Urknall, sondern es ist lediglich ein zweiter Aufguss eines älteren Kosmos. Oder der dritte oder der vierte oder der x-te. So genau kann Anna Ijjas es auch nicht sagen, aber die Kosmologin ist sich ziemlich sicher, dass die Geschichte nicht erst vor 13,8 Milliarden Jahren begann, wie es in Lehrbüchern zu lesen ist.
"Das Modell, nach dem der Urknall der Anfang von allem sei, wirft einige Probleme auf", sagt die Forscherin vom Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut, AEI) in Hannover. "Ich arbeite deshalb an einer besseren Erklärung." Damit meint sie: ein zyklisches Universum, das sich ausdehnt, irgendwann wieder zusammenzieht, dann wieder ausdehnt und so weiter. Eher Urprall statt Urknall.
"Nehmen wir das heutige Universum, das ist zehn hoch 28 Zentimeter groß, also eine Zahl mit 29 Stellen", sagt die Forscherin. Das dehne sich noch etwa 100 Milliarden Jahre lang aus, dann schrumpfe es wieder. Erst auf die Größe der Milchstraße, dann unseres Sonnensystems, unserer Erde, eines Fußballs, einer Liebesperle, eines Influenza-Virus.
Bis es ungefähr zehn hoch minus 25 Zentimeter klein ist – eine Zahl, bei der sich erst 25 Stellen nach dem Komma etwas tut. Und dann geht es wieder los. "Sie schauen so skeptisch", sagt Ijjas. "Ja, das hört sich winzig an, aber das zyklische Universum zur Zeit des Urpralls ist immer noch viel größer, als ein Urknall-Universum ganz am Anfang ist."
Hannover, der Herbst – alles drohte zusammenzuschnurren
Es ist eine skurrile Situation. Das Büro auf dem Hannoveraner Uni-Campus, das die Forscherin erst vor wenigen Wochen bezogen hat, nachdem sie von der Harvard Universität ans AEI gewechselt ist, ist bislang nur mit dem Nötigsten eingerichtet. Schrank, Schreibtisch, Stühle. An der Wand eine Tafel, vollgeschrieben mit Formeln und Graphen, draußen vor dem Fenster ein trüber Herbsttag, der die gelben Blätter von den Ahornbäumen zupft.
Und drinnen skizziert Anna Ijjas in wenigen Sätzen Szenarien, in denen Hannover, der Herbst und buchstäblich alles andere, was zum Kosmos gehört, wahlweise in die Unendlichkeit zerstrahlt oder zur Winzigkeit zusammenschnurrt, um sofort erneut aufzupoppen.
Für die Kosmologin sind solche Extreme nichts Ungewöhnliches: Sie hat sowohl in Philosophie als auch in Theoretischer Physik promoviert. 1985 in Ungarn geboren und als Jugendliche nach Deutschland gekommen, forscht sie fortan an den Universitäten Princeton, Columbia und Harvard.
Bereits während der zweiten Doktorarbeit befasst sich Ijjas mit dem Urknall. Und beginnt zu zweifeln, ob sich die Geschichte des Universums tatsächlich so abgespielt hat, wie sie in Standardwerken formuliert ist. Vor allem das Konzept der kosmischen Inflation erscheint ihr problematisch.
Die Unebenheiten des Urknalls wegbügeln
Der Begriff bezeichnet eine überlichtschnelle Ausdehnung des Alls unmittelbar nach dem Urknall, die für wenige Sekundenbruchteile anhielt. "Die Idee wurde in den 1980ern entwickelt, um zu erklären, warum das Universum als Ganzes so gleichförmig und simpel, geradezu langweilig ist", sagt Ijjas.
Würde das Universum sich nämlich immer nur langsam ausdehnen, sollten die zufälligen Quantenschwankungen des Urknalls Gebiete unterschiedlicher Energiedichte bilden, die bis heute als Gebirgszüge und weite Täler in der Raumzeit sowie in der Verteilung der Materie erkennbar wären. Doch davon sehen die Astrophysiker nichts.
"Um das zu erklären, hat man die Inflationstheorie ersonnen", sagt Ijjas. "Die rasche Ausdehnung in der Frühphase soll die groben Unebenheiten des Urknalls wegbügeln, sodass das Universum die simple Gestalt annimmt, wie wir sie kennen."
Die einfachsten Modelle schieden auf einen Schlag aus
Der Trick der Theoretiker hat aber Tücken. Für Ijjas, ursprünglich angetreten, um Ungereimtheiten der Inflationstheorie zu bereinigen, waren sie nicht mehr hinnehmbar, als im Frühjahr 2013 die Daten des "Planck"-Satelliten veröffentlicht wurden.
Das Experiment hatte die kosmische Hintergrundstrahlung mit zuvor nie dagewesener Genauigkeit vermessen und ein Bild vom jungen Universum geliefert, das für viele Varianten der Inflationstheorie zu simpel ist. Es wurde nämlich keine Spur von primordialen Gravitationswellen gefunden.
Diese winzigen und gleichförmigen Schwankungen in der Raumzeit sollen ein eindeutiger Hinweis auf die inflationäre Ausdehnung sein. "Die einfachsten Modelle, die man in den Lehrbüchern findet, schieden auf einen Schlag aus", erinnert sich die Forscherin. "Wir wissen inzwischen auch, dass die Inflation nicht unter beliebigen Anfangsbedingungen starten kann, diese müssten sehr speziell sein, was das Ganze unwahrscheinlicher macht."
Um den Urprall zu erklären, müsse man früher ansetzen
Als Postdoc, kurz nach dem "Planck-Schock", ist Ijjas in Princeton bei Paul Steinhardt, einer Instanz der Kosmologie. Er hat die Inflationstheorie mit entwickelt, sich in den frühen 2000ern aber davon abgewendet und ist zum Verfechter des Urprall-Modells geworden.
"Er hat mich ermutigt, vor angeblichen Lösungen nicht zu viel Respekt zu haben und offen für alternative Ideen zu sein." Woraufhin auch sie beim Urprall-Modell landete und nun versucht, das Konzept mit Formeln zu beschreiben. Man könne um das leidige Problem der Singularität herumkommen – also um jene Phänomene im Universum, wo die klassische Physik versagt, etwa im Inneren von schwarzen Löchern oder beim Urknall.
Sie setzt auf eine Modifikation der Einsteinschen Feldgleichungen. Demnach würde ein sich zusammenziehendes Universum gerade rechtzeitig wieder auf Expansionskurs gehen, bevor es das Gebiet der beschreibbaren Physik verlässt. Um diesen Urprall zu erklären, muss man früher ansetzen und zunächst überlegen, wie ein expandierendes Universum eines Tages zu schrumpfen beginnt.
Ijjas zufolge gibt es verschiedene Möglichkeiten, beispielsweise könnte das durch den Zerfall Dunkler Energie ausgelöst werden. Je mehr sich das Universum zusammenzieht, umso größer wird der "Druck" darin. Er verhindert einerseits, dass es bis auf die Größe eines Urknall-Kosmos zusammenschrumpft, zum anderen sorgt er dafür, dass "Klumpen" in der Energieverteilung und der Raumzeit weggebügelt werden. Auf diese Weise startet das nächste Universum von Beginn an relativ gleichförmig, eine Inflation ist nicht mehr nötig.
In ein bis zwei Jahren will sie ein Computermodell vorlegen
Die Reaktionen der Fachgemeinde waren vorhersehbar. "Es gab viel Kritik, bis hin zu persönlichen Angriffen, ich würde der Community schaden. Aber das ist normal, wenn man neue Wege geht. Das muss man aushalten", sagt Ijjas. Einen Zusammenhang damit, dass sie eine Frau ist, sieht sie kaum. "Es hat jedenfalls nicht die Hauptrolle gespielt, es hing eher mit meiner Jugend zusammen." Manche scharfe Gegenrede von früher würde sie heute nicht mehr führen und stattdessen auf fachlichen Austausch setzen.
Ungewöhnliche Thesen fordern starke Belege, das weiß auch Ijjas. Sie hat bereits Fortschritte in der mathematischen Beschreibung des Urpralls erzielt, in ein bis zwei Jahren möchte sie eine Computersimulation desselben präsentieren.
"Wenn sie damit erfolgreich ist, wird ihr Modell auch ernster genommen", sagt Torsten Enßlin vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching, führender Forscher der "Planck"-Mission und nicht in Ijjas' Arbeiten involviert.
"Viele Kosmologen sind inzwischen offener für Alternativen zur Inflationstheorie", bestätigt er und warnt vor schnellen Festlegungen. "Beide Theorien, Urknall und Urprall, machen gewagte Annahmen zu Energieformen, die wir noch gar nicht kennen, und extrapolieren von heutigen Bedingungen in wirklich wilde Bereiche des Kosmos. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dabei etwas schiefgeht."
Der Kosmos recycelt sich selbst
Entscheidend wird sein, inwiefern astrophysikalische Messungen Annahmen bestätigen oder widerlegen. Obwohl sie Theoretikerin ist, ist Ijjas ein enger Austausch mit Experimentatoren wichtig. Deshalb ging sie ans AEI in Hannover, wo das satellitengestützte Gravitationswellenobservatorium "Lisa" geplant wird. "Vielleicht das wichtigste Experiment des Jahrhunderts!"
Überhaupt sei das Grübeln in der Abgeschiedenheit nicht Ijjas' Sache. Die Nähe zur Uni, zu den jungen Menschen, das Team am AEI und die Betreuung von Forscherinnen und Forschern als Gruppenleiterin hätten sie überzeugt, hierherzukommen.
Was würde es für sie bedeuten, wenn reale Messdaten die Idee des Urpralls widerlegen? Etwa wenn die Analyse der kosmischen Hintergrundstrahlung doch noch Hinweise auf primordiale Gravitationswellen liefert. Diese sollen während der Inflation eines Urknall-Universums entstanden sein und sind in Ijjas' Überlegungen nicht enthalten. „Selbstverständlich würde ich das zunächst bedauern. Allerdings sind es immer unsere Fehler, die uns neue Erkenntnisse liefern und so den Weg zur besseren Erklärung weisen."
Aber schade wäre es schon, fügt sie hinzu. "In einem zyklischen Universum passiert immer etwas, durch den Urprall recycelt der Kosmos sich selbst – das ist doch spannend. Beim Urknall-Modell hingegen ist nur für ein paar Milliarden Jahre was los, dann zerfällt alles und es geschieht für alle Ewigkeit gar nichts mehr. Wie langweilig."