Frühe Austritte aus Europa: Vor dem Brexit kam der Gröxit
Schon Grönland und Algerien traten einst aus der Europäischen Gemeinschaft aus. Daraus kann man für den Ausstieg Großbritanniens aus der EU lernen. Ein Gastbeitrag.
Der Unmut über Europa war auf der Insel groß. „In Bezug auf Sprache, Kultur, Wirtschaft und Sozialstruktur“ weise sein Land große Besonderheiten auf, erklärte der wichtigste Politiker. Um „die Spezifika des Landes zu erhalten“, sei daher ein Austritt aus der Europäischen Gemeinschaft notwendig. In einem Referendum folgten ihm seine Landsleute, wenn auch knapp: 53 Prozent stimmten für den Austritt.
Bei dem Land handelt es sich nicht etwa um Großbritannien. Sondern um Grönland: Das trat 1985 nach einer Volksabstimmung aus der EG aus. Diese Vorgänge sind längst vergessen – was symptomatisch ist, wenn heute der Brexit diskutiert wird. Schließlich lautet zum Brexit die überwiegende Lesart in Medien und Wissenschaft, dass sich erst damit die Europäische Union zum ersten Mal nicht nach vor vorne, sondern rückwärts bewege. Desintegration ist weder empirisch noch normativ wirklich vorgesehen.
Dabei irren alle Kommentatoren, die die Einmaligkeit der Brexit-Situation behaupten, nicht nur aufgrund des wenig bekannten „Gröxits“. Lange vor der größten Insel der Welt mit ihren in den 1980er-Jahren rund 50 000 Einwohnern war 1962 Algerien parallel zur Unabhängigkeit von Frankreich aus der Europäischen Gemeinschaft ausgetreten. Diese Fälle verweisen darauf, wie wenig die Geschichte der EU und ihrer Vorläuferorganisationen jenseits einiger Eckdaten heute bekannt ist – obwohl sich aus ihnen einiges für die aktuelle Situation lernen ließe.
Der Unmut über den politischen Status Quo hatte sich angestaut
Algerien und Grönland waren der EG nicht als souveräne Staaten beigetreten, sondern gehörten zum kolonialen Erbe Frankreichs beziehungsweise Dänemarks. Algerien befand sich seit den Römischen Verträgen von 1957 in der entstehenden Gemeinschaft. Da es formal keine Kolonie war, behandelte der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Algerien nicht als assoziiertes Gebiet, sondern als Territorium im Rahmen der Gemeinschaft, für das allerdings einige Sonderbestimmungen galten. Grönland stieß in der ersten Erweiterungsrunde von 1973 als Teil Dänemarks zur EG.
Gemeinsam war beiden Ländern auch, dass sich der Unmut über den politischen Status quo zum Zeitpunkt des Austritts bereits seit Längerem angestaut hatte. Grönland hatte man beim nationalen Referendum über den Beitritt des Königreichs Dänemark zur EG im Oktober 1972 einfach überstimmt: Eine Überzahl dänischer „Jas“ verdeckte die Tatsache, dass in Grönland damals sogar eine 70-prozentige Mehrheit gegen den Beitritt votierte.
In Algerien war es 1954 zum Ausbruch eines offenen Konflikts im Verhältnis zu Frankreich gekommen – Gewalt und ein langjähriger Dekolonisationskrieg prägten den Weg in die Unabhängigkeit von 1962. In beiden Fällen spielte ein Zugewinn an politischer Souveränität eine zentrale Rolle in der Debatte, wobei ökonomische Argumente ebenfalls zum Tragen kamen. In Algerien sprach Ahmed Ben Bella, später der erste Präsident des Landes, die damals im Entstehen begriffene Landwirtschaftspolitik der EG an – diese drohe die Länder des Maghreb und Afrikas zu diskriminieren.
Die Briten wollten Grönland damals noch umstimmen
Auch in Grönland gesellten sich zu dem eingangs geschilderten Identitätsdiskurs handfeste ökonomische Motive. In der Kritik stand vor allem die Gemeinsame Fischereipolitik der Gemeinschaft, die dazu führe, dass die Fangflotten anderer Mitgliedstaaten die fruchtbaren Gewässer vor der Insel überfischten. Dagegen stellte es für die Handvoll grönländischer Fischer keinen großen Gewinn dar, dass sie nun auch privilegierten Zugang zur Kieler Bucht, der Ägäis oder dem Ligurischen Meer hatten.
In puncto Souveränitätsfrage gab es allerdings auch einen markanten Unterschied: Algeriens Unabhängigkeitsbewegung strebte in erster Linie nationale Souveränität an. Die grönländische Führung unter Jonathan Motzfeldt zielte dagegen nicht auf eine Abtrennung von Dänemark. Der Wunsch nach mehr Souveränität bezog sich lediglich auf die EG. Grönlands fortgesetzte Zugehörigkeit zu Dänemark führte zu der absurden Situation, dass die Regierung in Kopenhagen das Austrittsgesuch in Brüssel vortragen musste – obwohl sie wenig von dem Ansinnen hielt. Ähnlich kritisch sahen den Austritt viele Regierungen anderer EG-Mitgliedstaaten. Ausgerechnet die britische Regierung fragte informell in Kopenhagen nach, ob man dabei helfen könne, das Meinungsbild auf Grönland positiv zu beeinflussen.
Was taten Algerien und Grönland parallel zu den Austrittsverhandlungen? Grönland bemühte sich rasch um eine Assoziierung mit der EG. Die Insel ging also den scheinbar paradoxen Doppelschritt, einerseits mehr Unabhängigkeit erlangen zu wollen und gleichzeitig den engen Schulterschluss mit der Gemeinschaft zu suchen. Parallel zum Austritt einigte man sich auf eine Reihe von Protokollen, die den EG-Staaten weiterhin umfangreiche Fangrechte in grönländischen Gewässern einräumten und auch ansonsten für enge Beziehungen sorgten. Heute verknüpfen die Insel in vielerlei Hinsicht engere Bande mit der EU als vor dem Austritt.
Algerien wollte Sonderbestimmungen behalten
Algeriens Verhältnis zur EG entwickelte sich entgegengesetzt, auch wenn das zunächst nicht den Anschein hatte. Am Weihnachtsabend des Jahres 1962 schrieb Ben Bella einen Brief an den Präsidenten der EWG-Kommission, den Deutschen Walter Hallstein. Leicht verklausuliert bat er darum, dass die Sonderbestimmungen der EG für Algerien fortgelten sollten. Im Klartext hieß das: Trotz des Austritts sollte mit dem nordafrikanischen Land künftig so umgegangen werden, als wäre es weiter Teil der EG. Die algerische Regierung hatte schnell erkannt, dass dies den ökonomischen Bedürfnissen des Landes am ehesten diente, so sehr es der Idee von Unabhängigkeit und neu gewonnener Souveränität widersprach.
Erstaunlicherweise ließ sich die Gemeinschaft zunächst auf den Vorschlag ein. Seit 1966 begann sich die Situation für Algerien jedoch langsam ins Negative zu verkehren. Der Aufbau der EG mit ihren nach außen hin wachsenden Zollhürden erschwerte algerischen Produzenten den Zugang zum europäischen Binnenmarkt. So griffen die ursprünglichen Sonderkonditionen immer weniger. Einige Mitgliedstaaten wehrten sich dagegen, Algerien diese weiterhin einzuräumen. Besonders Italien sah in den Agrarimporten aus dem Maghreb-Staat ärgerliche Konkurrenz. Nach Jahren eines Übergangszustandes war der ökonomische Preis, den Algerien für die Unabhängigkeit von Frankreich, aber auch von der EG zahlte, überaus hoch.
Anhand des „Gröxit“ und des „Algxit“ lassen sich mehrere Schlüsse ziehen. Neben der banalen Feststellung, dass wir mit dem Brexit-Referendum vor keiner völlig neuen Situation stehen, zeigt sich, wie komplex das Wechselverhältnis von Integration und Desintegration ist. Sehr deutlich werden die Spannbreite des Möglichen sowie das Fiktionale an der populistischen Idee, vollständige Souveränität und Autonomie zu erreichen.
Die Austritte sicherten vor allem Experten ein sicheres Auskommen
Etwas Zweites hängt damit eng zusammen: Exit-Unterstützer in Grönland, Großbritannien und anderswo inszenierten den Austritt oft als eine Art rettende Tat. Der Moment erhielt eine Aura von Authentizität und Bedeutung – Politik erschien gestaltbar, Geschichte machbar. An Algerien und Grönland zeigt sich in unterschiedlicher Form, dass der Austritt tatsächlich mittel- und langfristig wichtige Folgen hatte. Aus dem „super soft exit“ Algeriens in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit entwickelte sich ein „hard exit“. Grönland wählte durchgängig eine „soft exit“-Variante und ging tendenziell den Weg von „soft“ zu „softer“.
Deutlich wird so aber auch, dass ein Austritt etwas ganz anderes darstellt als das Durchschlagen eines gordischen Knotens. Immer wieder wurde in den Jahren seit dem Austritt das Verhältnis zur Gemeinschaft nachjustiert. Statt neuer Freiheiten und weniger Bürokratie wächst durch den Austritt der Regulierungsbedarf deutlich. Er sichert Wirtschaftsjuristen, Volkswirten und anderen gut bezahlten Experten ein sicheres Auskommen. Ob dagegen mehr Geld beim Steuerzahler oder für den Bau von Schulen und andere nationale Prioritäten bleibt, ist sehr fraglich.
Europas koloniale Vergangenheit dürfte wieder aktuell werden
Drittens tritt uns bei diesem Thema eine andere EG/EU entgegen als jene, die die meisten Darstellungen zur Integrationsgeschichte dominiert: In einer von den Supermächten des Kalten Krieges beherrschten Welt schlossen sich demnach westeuropäische Staaten zusammen, um ein friedliches Zusammenleben jenseits von Hypernationalismus, Imperialismus und Krieg zu beginnen. In jüngster Zeit wurde diese These herausgefordert. Die EG sei primär aus dem geopolitischen und ökonomischen Impuls in Westeuropa entstanden, Afrika durch ein neues Set an Institutionen weiterhin zu dominieren, heißt es da. Diese These erscheint überzogen. Richtig ist jedoch, dass der bislang oft übersehene koloniale Nexus im Einigungsprozess bedeutsam war – keineswegs nur in der Anfangsphase. Das wäre bei einem Brexit nicht anders. Mit ziemlicher Wucht dürfte er Probleme aus Europas kolonialer Vergangenheit auf die politische Tagesordnung zurückkatapultieren, man denke an Gibraltar.
Schließlich zeigt sich, wie einflussreich die Narrative über den Einigungsprozess sind, die seine Institutionen und die ihm nahestehenden Akteure selbst vorgebracht haben. Abgesehen von billiger Polemik am wachsenden politischen Rand und dem Mehltau des Desinteresses fühlen sich gerade in Deutschland viele weiter der Idee der „Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“ verpflichtet. Politisch mag man diese Idee begrüßen. Gute Geschichtswissenschaft wird daraus aber noch nicht. Erst wenn die Forschung die von der EG/EU selbst generierten Narrative einem kritischen Härtetest unterzieht und mit alternativen Interpretationen aufwarten kann, erfüllt sie ihre eigentliche Funktion. Ein Exit aus dem Deutungskosmos der EG/EU ist notwendig, um den Brexit und andere Fragen der Integrationsgeschichte wirklich erklären zu können.
Der Autor ist Professor für Europäische und Globale Geschichte an der Universität Maastricht. Der Text beruht auf einem Aufsatz für die „Zeithistorischen Forschungen“.