Sexualität: Von wegen "Generation Porno"
Jugendliche haben immer öfter und früher Sex, heißt es - doch stimmt das überhaupt? Vieles deutet darauf hin, dass sich junge Menschen heute nicht anders als früher benehmen.
„Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität.“ Was sich ausnimmt wie der Stoßseufzer eines geplagten Großstadt-Pädagogen unserer Zeit, ist in Wirklichkeit die Meinung des alten Sokrates über die jungen Athener des vierten vorchristlichen Jahrhunderts. Was würde der Philosoph erst heute sagen, wenn er täglich die Schlagzeilen über das Verhalten Jugendlicher, über Komasaufen, Schuldenfalle, Ess- und Aufmerksamkeitsstörungen oder Gewalttätigkeit auf Schulhöfen lesen müsste? Von immer früheren, immer wahlloseren und immer riskanteren sexuellen Beziehungen ganz zu schweigen.
Vor allem in den USA – einem Land, in dem Teenagerschwangerschaften seit Jahrzehnten ein großes Problem sind – warnten Medien in den vergangenen Jahren häufig vor den Fallstricken des Geschlechtsverkehrs für Minderjährige. Pünktlich zu Beginn der Obama-Ära könnte sich das nun ändern. Das neue Buch der Soziologieprofessorin Kathleen Boogle von der La-Salle-Universität jedenfalls legt nahe, dass die Befürchtungen übertrieben sind und auf ungenauer Beobachtung beruhen. Boogle kann zum Beispiel nachweisen, dass sich das Verabredungsverhalten junger Leute durch SMS und E-Mails verändert hat: Ein Date von College-Studenten ist nicht mehr das, was es früher war, wie sie jetzt der New York Times berichtete: „Es kann, muss aber nicht zu einer körperlichen Beziehung führen“. Allein anhand der Anzahl der Dates auf wachsende Promiskuität von Heranwachsenden zu schließen, wäre also voreilig. Auch die Soziologin Maria Kefalas von der St.-Joseph's-Universität in Philadelphia warnt vor moralischer Panikmache. Viel wichtiger sei es, das wissenschaftliche Augenmerk auf die Schutzfaktoren zu lenken, die dazu führen, dass Jugendliche Pille und Kondome gewissenhaft einsetzen. „Ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass die trüben Botschaften über Jugendsexualität in den USA jetzt abzunehmen scheinen“, kommentiert der Soziologe Kurt Starke, Begründer der Forschungsstelle Partner- und Sexualforschung in Leipzig.
Das Verhältnis der Jugendlichen zu ihren Eltern ist besser geworden
Und wie steht es in Deutschland um die sexuellen Erfahrungen und das Verhalten deutscher Minderjähriger? Darüber informiert seit 1980 eine inzwischen mehrmals wiederholte Befragung, die die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bei der Abteilung für Empirische Sozialforschung der TNS Emnid in Auftrag gegeben hat. Zuletzt wurden 2497 Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren im Jahr 2005 befragt. Das Besondere: Anlässlich dieser letzten Befragung, deren Ergebnisse im Jahr 2006 veröffentlicht wurden, wurde auch jeweils einem Elternteil der Jugendlichen eine Reihe von Fragen vorgelegt.
Die Studie zeigt, dass auch in Deutschland keineswegs „alles immer schlimmer wird“: Verbessert hat sich offensichtlich das Verhältnis der Jugendlichen zu ihren Eltern. 54 Prozent der Jungen und 64 Prozent der Mädchen gaben an, mit einem ihrer Eltern über Sex zu sprechen. Bei den Jungen sind das doppelt so viele wie 1980. Vor allem die Mütter sind in den letzten 25 Jahren als Vertrauenspersonen offensichtlich immer wichtiger geworden. Am vertrautesten ist das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern, gefolgt von dem der Mütter und der Söhne, zwischen denen mehr Gespräche stattfinden als zwischen den männlichen Mitgliedern der Familie. Auch Lehrer gelten laut Studie als „gewünschte Personen der Wissensvermittlung“. Sexualforscher Starke findet das alles wenig verwunderlich: „In der öffentlichen Diskussion wurde in den letzten Jahren die Rolle der Gleichaltrigen bei der Sexualaufklärung überbewertet.“
Ebenfalls überschätzt wird nach Ansicht des erfahrenen Sexualwissenschaftlers die angebliche „Frühreife“ der Jugend. 14 Prozent der Mädchen und zwölf Prozent der Jungen haben den Zahlen der BZgA zufolge schon im zarten Alter von 14 Jahren Erfahrungen mit Geschlechtsverkehr, ein Viertel der Mädchen und ein Drittel der Jungen bewahren sich ihre Jungfräulichkeit aber mindestens bis zum Alter von 17 Jahren. Von den getrennt untersuchten Migrantinnen und Migranten berichten etwas mehr als die Hälfte der 17-jährigen Mädchen und fast 80 Prozent der jungen Männer, schon sexuelle Erfahrungen gemacht zu haben.
Der erste Sex findet kaum früher statt als bei vorangegangenen Generationen
Insgesamt kann Starke in den letzten Jahren aber keine gravierende Vorverlegung des Zeitpunkts für den ersten Geschlechtsverkehr feststellen, den Wissenschaftler als „Kohabitarche“ bezeichnen. „Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass wir es inzwischen mit einer größeren Streubreite zu tun haben: Eine Gruppe von Jugendlichen beginnt sehr früh, bei einer anderen Gruppe, die vor allem aus Jungen besteht, ist jedoch fast schon eine Verzögerung der Entwicklung zu verzeichnen." Wann diese jungen Männer ihre erste Beziehung erleben, sei in einer Studie, die mit dem 17. Lebensjahr endet, gar nicht zu erfassen. Der Sexualforscher findet es bedenklich, wenn solche gegenläufigen Trends übersehen werden, weil alle sich auf die vermeintlich zunehmende „Frühreife“ der heutigen Adoleszenten fixieren. „Dabei sollten wir froh sein, wenn sich junge Menschen verlieben.“
Die meisten Jugendlichen erleben das „erste Mal“ auch heute innerhalb einer festen, vertrauensvollen Beziehung. Die Mehrheit der Befragten mit sexueller Erfahrung gab zudem an, bisher nur einen Partner gehabt zu haben. Und insgesamt sind die Herwachsenden auch hinsichtlich der Verhütung verantwortungsbewusster geworden - nicht zuletzt dank guter Aufklärung, auch durch die Materialien der BZgA. Starke hat schon fast Angst, dass den besonders Verantwortungsbewussten unter den jungen Leuten die Leichtigkeit verloren gehen könnte. „Bei vielen herrscht fast panische Angst vor einer unerwünschten Schwangerschaft.“
Machen die Erwachsenen sich also die falschen Sorgen? Die Zukunftsängste der Jugendlichen beträfen zwei Fragen, sagt Starke: Finde ich Arbeit und finde ich einen Partner? Es sind existenzielle Sorgen, wie sie auch viele Eltern für ihre Kinder haben. Und es sind Sorgen, die sich verbinden können. Wie bei der Gymnasiastin, die Starke fragte: „Wie viel Zeit darf ich mir überhaupt für die Liebe nehmen, ohne meiner Karriere damit zu schaden?“
Adelheid Müller-Lissner
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität