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Affiges Verhalten. Schimpansen sind nahe mit dem Menschen verwandt. Deshalb ist ihr Verhalten für Wissenschaftler besonders interessant.
© IMAGO

Primatenforschung: Von Menschen und Affen

Schimpansen sind die nächsten lebenden Verwandten des Menschen. Forscher beobachten sie in der Wildnis, etwa im Taï-Nationalpark im Südwesten der Elfenbeinküste. Doch die Nähe birgt Gefahren.

Eines Morgens im Mai 1999, als ich in meinem Büro in Leipzig saß, erhielt ich einen Anruf von der Elfenbeinküste. Anrufe von der Elfenbeinküste sind mir verhasst, weil sie in der Regel nichts Gutes bedeuten. Ilka, die Leiterin unseres Projekts im Taï-Wald, war höchst besorgt: In den letzten drei Tagen hätten sämtliche Schimpansen Husten und Schnupfen bekommen, berichtete sie, und manche seien inzwischen so geschwächt, dass sie nicht einmal mehr auf die Bäume klettern könnten.

Wir kamen überein, dass ich baldmöglichst kommen und einen Tierarzt mitbringen würde, der einige Zeit für uns tätig gewesen war. In der Zwischenzeit sollte das Team Notfallmaßnahmen zum Schutz der erkrankten Tiere ergreifen und ihren Zustand genau dokumentieren. Wir hatten abgemacht, dass Assistenten bei den schwächsten Schimpansen, die am Boden schlafen mussten, Wache halten würden, damit sie nicht Leoparden zum Opfer fielen, dass sie alle Tiere mit schweren Symptomen möglichst genau beobachten sollten, um die Ausbreitung der Krankheit im Blick zu behalten, dass Kleidung und Schuhwerk vor und nach jedem Gang in den Wald desinfiziert würden, dass ein Sicherheitsabstand von sieben Metern zu den Tieren einzuhalten sei, um die Übertragung von Keimen durch Menschen zu verhindern, und dass niemand ohne entsprechende Ausbildung einen eventuell verstorbenen Schimpansen berühren dürfte.

Als ich in der Nacht darauf im Flugzeug saß, überkam mich die Angst – wie fünf Jahre zuvor. Damals hatte das tödliche Ebola-Virus unsere Studiengruppe heimgesucht. Insgesamt 20 Schimpansen waren dabei gestorben. Die Epidemie trat ganz plötzlich auf, sodass wir keine Aufzeichnungen machen konnten, die das Geschehen vielleicht im Nachhinein erklärt hätten. Ich wusste noch genau, wie traurig und hilflos mein ältester und erfahrenster afrikanischer Mitarbeiter Grégoire Nohon gewirkt hatte, als er mir am Telefon vom Tod Ondines berichtete, einem der höchstrangigen Weibchen: „Als ich Ondine tot daliegen sah, war ich am Boden zerstört. Um sie herum saßen etliche Schimpansen, denen man die Trauer ansah, aber ich war so überwältigt von meinen Gefühlen, dass ich kaum etwas wahrgenommen habe. Es tut mir von Herzen leid, aber ich war der Situation schlicht nicht gewachsen und musste weggehen.“ Der Wissenschaftler in mir wurde wütend, denn als die Feldassistenten am nächsten Morgen in den Wald kamen, fanden sie Ondines Leichnam mit belaubten Zweigen bedeckt vor. Wer hatte sie auf diese Weise bestattet? Der Schimpansenmann Brutus, der Ondine jahrelang in jeder Hinsicht unterstützt hatte? Und was mochte ein Tier zu solch einem Akt bewegt haben? Zugleich jedoch hatte der Mensch in mir Verständnis für Grégoires Reaktion; mir selbst wäre es kaum anders ergangen, hätte ich Ondine tot vorgefunden.

Kurz nach diesem traurigen Ereignis hatte ich das Glück, Pierre kennenzulernen, einen in Abidjan tätigen Tierarzt, der sich bereit erklärte, seine Arbeit für einige Zeit auszusetzen. Er wollte gemeinsam mit uns ein Projekt in Angriff nehmen, das klären sollte, auf welche Weise die Schimpansen sich anstecken und wie Ebola und andere Krankheiten sich bei ihnen auswirken.

Diese Kooperation war für uns äußerst lehrreich, denn als Biologen und Naturschützer lassen wir, wenn es um die Sterblichkeit von Wildtieren geht, den Faktor Krankheit(en) oft außer Acht. Den natürlichen Tod bringt man in der Regel mit Fressfeinden oder hohem Alter in Zusammenhang und den unnatürlichen mit Jagd und Lebensraumzerstörung. Dass bei den Taï-Schimpansen immer wieder Krankheiten ausbrachen, machte uns deutlich: Wir hatten bis dahin einen wichtigen Faktor übersehen.

Die Frage, ob womöglich wir die Viren auf die Schimpansen übertragen hatten, ließ mir monatelang keine Ruhe. Ich beschloss, dem auf den Grund zu gehen, zumal es im Rahmen unserer Langzeitstudien an habituierten Menschenaffen möglich geworden war, die Ursachen der natürlichen Sterblichkeit festzuhalten – eine wichtige Voraussetzung, um die Tiere künftig besser zu schützen.

Nach einem anstrengenden Flug landete ich um zwei Uhr morgens in Abidjan, wo Pierre mich erwartete, und wir machten uns, nachdem ich vier Stunden geschlafen hatte, auf die lange Fahrt in den Taï-Wald. Es dämmerte bereits, als wir das Camp erreichten, und sogleich hielten wir eine Lagebesprechung mit Ilka ab. Zu meiner Bestürzung erfuhr ich, dass Loukoum am Vortag ihrer Erkältung erlegen war. Und Lefkas befand sich in einem äußerst kritischen Zustand. Er konnte nicht mehr klettern und schlief darum allein am Boden. Zwei Feldassistenten, die gerade aus dem Wald zurückgekommen waren, setzten sich zu uns und berichteten von zwei weiteren toten Tieren. Das eine war Castor, ein Weibchen mit starker Gehbehinderung, das andere ein erwachsener männlicher Schimpanse. Weil wir von Ilka erfahren hatten, dass der wässrige Nasenschleim der erkrankten Tiere gelblichweiß war, was auf eine bakterielle Infektion hindeutete, beschlossen wir, Lefkas per Blasrohr ein Antibiotikum zu verabreichen, bevor es zu spät war.

Eine Stunde nach unserer Ankunft waren wir bereits auf dem Weg in den mittlerweile stockfinsteren Wald, den ich wie meine Westentasche kannte, weil ich dort viele Jahre mit den Schimpansen zugebracht hatte. Per Walkie-Talkie kündigten wir Grégoire und Nicaise, die bei Lefkas Wache hielten, unser Kommen an.

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Menschenaffen“, das im S. Hirzel Verlag erschienen ist.
Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Menschenaffen“, das im S. Hirzel Verlag erschienen ist.
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Etwa 30 Meter von Lefkas entfernt hatten sie eine Plane als provisorisches Zelt aufgespannt und zusätzlich eine Laterne aufgestellt, um Leoparden fernzuhalten. Lefkas war in einer jämmerlichen Verfassung: Er lag auf dem Bauch, atmete laut mit offenem Mund und bewegte sich kaum, als wir näher traten. Uns beschlich die Angst, wir könnten zu spät gekommen sein. Pierre bereitete in aller Eile das Blasrohr vor und injizierte das Antibiotikum – nun konnten wir nur noch hoffen, dass es seine Wirkung tat.

Ich übernahm es, bei Lefkas zu wachen, und es wurde die längste und traurigste Nacht meines Lebens. Er hatte große Mühe mit dem Atmen, fand keinen Schlaf und legte sich immer wieder anders hin. Ich ließ ihn die meiste Zeit in Ruhe, sah nur hin und wieder nach ihm. Mein Blick fiel auf sein linkes Ohr.

Er hatte als Baby ein Stück davon eingebüßt, als seine Mutter um ihren Anteil an einem Beutetier kämpfte, während er sich an ihren Bauch klammerte. Wie ich so im Dunkeln saß, dachte ich über die Entwicklung unseres Schimpansenprojekts nach. Als meine Frau Hedwige und ich 1979 damit begannen, war uns klar, dass die Zukunft der Schimpansen höchst ungewiss war. In den ersten Jahren hörten wir immer wieder die Bulldozer von Holzfirmen, die illegal in den Park eindrangen, um unter anderem die Nahrungsbäume der Schimpansen zu fällen. Dank tatkräftiger behördlicher Unterstützung gelang es, die Invasion der Holzfäller zu stoppen, nicht aber die Wilderer.

Ihre Schüsse hallten nach wie vor durch den Wald, und indem wir die Schimpansen an uns gewöhnten, setzten wir sie einem höheren Risiko aus, Beute von Jägern zu werden. War unser Vorhaben, wenn man dies bedachte, überhaupt zu verantworten? Andererseits waren noch nie Schimpansen im Regenwald studiert worden, man wusste so gut wie nichts über sie.

Tatsächlich konnten wir nachweisen, dass die Waldschimpansen in Taï mehr Werkzeuge herstellen und benutzen und häufiger im Gruppenverband jagen als jene im offenen Waldland des tansanischen Gombe-Nationalparks, die Jane Goodall so ausführlich erforscht hat. Unsere Erkenntnisse warfen ein neues Licht auf die Theorie der Evolution des Menschen, die man lange als Ergebnis einer Anpassung an die Savanne betrachtet hatte. Außerdem ging aus unseren Studien hervor, dass Schimpansen in unterschiedlichen Umgebungen unterschiedliche Verhaltensweisen entwickeln, von denen manche sich nicht durch ökologische Gegebenheiten erklären lassen – ein klarer Hinweis auf kulturelle Traditionen, die man zuvor als nur dem Menschen eigen gesehen hatte.

Unser Anliegen war es, diese neuartigen Beobachtungen an Waldschimpansen möglichst weit in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und damit zur Sicherung der Zukunft unserer nächsten lebenden Verwandten im Tierreich beizutragen. Mehrere Filmteams, darunter auch das BBC-Team von David Attenborough, brachten die Taï-Schimpansen ins Fernsehen. Es ist jedoch schwierig, den Nutzen gegen die Kosten für die Tiere abzuwägen, daher waren wir uns nie ganz sicher, ob wir das Richtige taten.

Vor allem Letzteres ging mir durch den Sinn, während ich bei dem kranken Lefkas wachte, den ich seit seinem ersten Lebenstag kannte. Hatten wir, die sich für diese Menschenaffen engagierten, womöglich die Krankheit eingeschleppt und damit leichtfertig ihr Leben aufs Spiel gesetzt? Wie konnten wir den Schimpansen helfen, wie die Übertragungswege der Krankheiten ermitteln? Sich nachts im Regenwald aufzuhalten, ist ein besonderes Erlebnis, allein wegen der faszinierenden Geräuschkulisse: Die großen Hammerköpfe (aus der Familie der Flughunde) stoßen Balzrufe aus, die Buschbabys surren wie kleine Nähmaschinen, die Rufe der Baumschliefer schwellen an und verklingen, die fasanenähnlichen Frankoline singen ein Duett mit den Spornkuckucken, und hoch oben über den Wipfeln erklingt das „Gelächter“ des Hagedaschs.

Mit dem keuchenden Lefkas neben mir konnte ich das nächtliche Konzert kaum genießen. Um fünf Uhr morgens tat er seinen letzten Atemzug, und in meinem Herzen verlor der Taï-Wald ein Stück seines Zaubers. Als es eine Stunde später hell zu werden begann, bemerkte ich einen kleinen Schimpansen, der von einem Baum in der Nähe herabgekommen war. Es war Léonardo, Lefkas' zweijähriges Brüderchen. Völlig bestürzt, weil er nun binnen zwei Tagen zwei Familienmitglieder verloren hatte, betrachtete er seinen toten Bruder und machte sich dann, weil kein anderer Schimpanse zu sehen war, ganz allein in Richtung Norden auf. Ich fürchtete, ihn nie mehr wiederzusehen.

Acht Jahre nach dem Tod von Loukoum und Lefkas fanden wir bei Laboruntersuchungen ein menschliches Virus in den entnommenen Proben. Damit stand fest, dass sie von Menschen angesteckt worden waren, was meine alten Ängste wieder verstärkte, obwohl sich natürlich nicht sagen ließ, wer der „Schuldige“ war. Jemand aus unserer Gruppe oder ein Jäger, der sich im Streifgebiet aufgehalten hatte? Wir überlegten und kamen zu dem Schluss, dass – selbst wenn das Virus von uns stammen sollte – unsere permanente Anwesenheit auch Schutz vor Wilderern bot. Und zwar nicht nur für die Schimpansen, sondern für alle Waldtiere. Davon wurden Lefkas und Loukoum zwar nicht wieder lebendig, aber die Tatsache, dass die Gegend um unser Camp eine weit höhere Dichte an großen Säugetieren aufwies als andere Parkbereiche, bestätigte uns in unserem Tun.

Christophe Boesch leitet die Abteilung für Primatologie am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. 

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Menschenaffen“, das im S. Hirzel Verlag erschienen ist, herausgegeben von Christophe Boesch und Martha Robbins. (184 Seiten, 24,90 Euro).

Christophe Boesch

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