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Herbert Marcuse musste 1934 in die USA emigrieren, dort erschienen seine Hauptwerke zur Kritischen Theorie. Der Philosoph und Politologe wurde zum Idol der deutschen Studentenbewegung und sprach 1969 unter anderem in Frankfurt.
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Frankfurter Schule: Von der Kritischen Theorie zum Populismus

Was bleibt von der Frankfurter Schule? Hierzulande sind ihre Schüler aktiv, in den USA irritiert eine Wende zu Lehren Carl Schmitts.

Blau wie die Klassiker der Marx-Engels-Gesamtausgabe leuchten die beiden Bände „Kritische Theorie“ mit gesammelten Beiträgen der Zeitschrift für Sozialforschung aus dem gleichnamigen Institut von Adorno und Horkheimer. Spätestens seit 1968 gelten auch sie als Klassiker des – allerdings undogmatischen – marxistischen Erbes. Zusammen mit der „Dialektik der Aufklärung“ bilden sie die Grundschriften der Kritischen Theorie, besser bekannt als „Frankfurter Schule“, obwohl ihre Autoren dem in der deutschen Philosophie beliebten Begriff der Schule eher abhold waren. Entstanden sind sie überwiegend im amerikanischen Exil und nicht in Frankfurt, wo das Institut 1923 gegründet wurde und wohin es 1951 zurückkehrte, um nach Meinung von Fachkollegen „die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“ zu bewirken.

Unter diesem Titel erschien 1999 ein Sammelband zur Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, nachdem schon 1986 Rolf Wiggershaus sein Standardwerk „Die Frankfurter Schule – Geschichte, Theoretische Entwicklung und Politische Bedeutung“ vorgelegt hatte, als sei sie bereits an ihr Ende gelangt. Aus heutiger Sicht gelten indessen Jürgen Habermas und Oskar Negt als Vertreter einer „Jüngeren Kritischen Theorie“ und Axel Honneth – seit 2001 Leiter des Frankfurter Instituts – als Repräsentant einer dritten Generation der Frankfurter Schule. Nur ihre Nachwirkung im Land ihrer Ausformulierung, den Vereinigten Staaten, war lange ein blinder Fleck in der üppig wuchernden Forschungsliteratur.

Sowjetmarxismus in der kapitalistischen Welt

Das betrifft weniger die in den USA verbliebenen Weggefährten der Kritischen Theorie wie Leo Löwenthal und Herbert Marcuse, denen Tim B. Müller in der Hamburger Edition (auch sie mit Jan Philipp Reemtsmas Hamburger Institut für Sozialforschung in der Nachfolge der Frankfurter Schule) 2010 eine Monografie gewidmet hat. Sie schildert am Beispiel Marcuses die Einbürgerung der Weimarer Linken und des deutschen Exils in den USA, und zwar erstmals im historischen Zusammenhang der Kriegs- und Nachkriegszeit und der Jahre des Kalten Kriegs mit der Sowjetunion.

Marcuse-Adepten der deutschen Studentenbewegung wussten zumeist nur wenig über seine Rolle als Zuarbeiter in Forschung und Analyse für den OSS, den Vorgänger der CIA, und die Rockefeller- und Ford Foundation, durch die Marcuse zum führenden Marxismus-Experten der USA und Gründervater eines Internationalen Netzwerks der Marxismus-Forschung wurde. Es strahlte bis nach Berlin aus.

Zu seinen Hauptwerken gehören nicht nur die Bibeln der Studentenbewegung „Der eindimensionale Mensch“ und „Repressive Toleranz“, sondern auch seine Analyse des Sowjetmarxismus (Die Gesellschaftslehre des Sowjetischen Marxismus, 1964). Das hinderte Marcuse nicht, deren Ergebnisse in der Tradition der Frankfurter Schule auch auf die westliche kapitalistische Welt anzuwenden und dabei sogar die antikommunistischen Frankfurter Gründerväter links zu überholen.

Mit Marcuse endete die amerikanische Wirkungsgeschichte

Nur die orthodoxe KP der USA unter Gus Hall hielt Marcuses Wirken unbeirrt für „Teil eines Komplotts der US-Regierung mit dem Ziel, die Jugend zum kulturellen Radikalismus anzustacheln und sie von einer politischen Revolte abzuhalten.“ Das Gegenteil war der Fall.

Mit Marcuses Tod 1979 endet auch die amerikanische Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, nicht aber ihre Nachwirkung in den USA. Diese hat Robert Zwarg in seiner erweiterten Dissertation „Die Kritische Theorie in Amerika. Das Nachleben einer Tradition“ erstmals umfassend beleuchtet. Sie erschließt sich vorrangig aus der Geschichte und Analyse zweier Zeitschriften der amerikanischen Neuen Linken zu Theorie und Praxis der Kritischen Theorie: Die von Paul Piccone 1968 in Buffalo gegründete Zeitschrift „Telos“ und die 1973 in Madison gegründete „New German Critique. An Interdisciplinary Journal of German Studies“. Ein weiterer Türöffner für die Aneignung und Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie war das amerikanische Standardwerk von Martin Jay „The Dialectical Imagination. A History oft the Frankfurt School and the Institute of Social Research“ (Boston 1973, deutsch Frankfurt 1976).

Die Kritische Theorie kommt in die USA

In den beiden Zeitschriften und ihrem Umkreis las, übersetzte und kommentierte man erstmals die Quellen des europäischen Westlichen Marxismus von Lukács, Korsch und Bloch bis zu den Häuptern der Frankfurter Schule, Theodor Adorno und Max Horkheimer. Den Anfang machten Horkheimers „Autoritärer Staat“, Adornos „Kultur und Verwaltung“, Marcuses „Über den Begriff der Arbeit“, gefolgt von Benjamin und Siegfried Kracauer. Schon 1960 hatte Hans Gerth Walter Benjamins „Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit“ übersetzt – in Madison, wo dank seiner Professoren aus dem Umkreis des deutschen Exils – neben Gerth vor allem Georg L. Mosse und als Gast Hans Mayer – „eine einmalige Konstellation aus politisch bewegten Studenten und akademischen Lehrern europäischer Herkunft“ (Robert Zwarg) entstand.1978 gaben Andrew Arato und Eike Gebhardt das erste Quellenhandbuch zur Kritischen Theorie „The Essential Frankfurt School Reader“ heraus. Jetzt war, wie es im Vorwort hieß, die Kritische Theorie „keine Fremde mehr in Amerika“.

Doch schon bald zerstritt man sich in den beiden Zeitschriften über den Stellenwert der Kritischen Theorie für die politische Praxis der amerikanischen Studentenbewegung und Neuen Linken. Vor allem der Kreis um „Telos“ und seinen eigensinnigen Herausgeber Paul Piccone, der sich von der Kritischen Theorie eine Anleitung zur revolutionären Praxis jenseits der marxistisch-leninistischen Orthodoxie erhofft hatte, war man vom Akademismus ihrer Lesart in Madison enttäuscht.

Abschied vom Marxismus

„Telos“ verabschiedete sich schon in den achtziger Jahren sowohl vom östlichen wie vom westlichen Marxismus, der sich in Gestalt der scheiternden New Left „von der Tragödie zur Farce“ entwickelt habe. 1977 befand Piccone über die eigene Rezeption der Kritischen Theorie, dass „unsere historische Funktion darin bestand, dem Marxismus ein anständiges Begräbnis zu bereiten." Die Mehrheit der Redaktion und prominenten Beiträger aus dem Kreis der Lukács-Schüler (Agnes Heller, Ferenc Feher) verabschiedete sich daraufhin von Telos und Piccone, der die Linie der Zeitschrift allein zu bestimmen beanspruchte..

Auch als mit Habermas die zweite "jüngere Kritische Theorie" in Erscheinung trat und von Thomas McCarthy (The Critical Theory of Jürgen Habermas, 1978) in Amerika vorgestellt wurde, blieb Piccone „äußerst skeptisch“ und wandte sich der – an Derrida, Lacan, Lyotard orientierten – „French Theory“ zu. Diese wiederum wurde von den Adepten der Kritischen Theorie als französischer Irrationalismus verdächtigt.

Als wollte er den darin versteckten Faschismusverdacht bestätigen, wandte sich Piccone in den achtziger Jahren Carl Schmitt zu, dem „Telos“ eine eigene Konferenz und ein Sonderheft „Carl Schmitt and the Frankfurt School“ widmete. Für Lutz Niethammer wurde „Telos“ damit „zur posthumen Importagentur Carl Schmitts in die amerikanische Intelligenzia“. In der Folge entfernte sich Piccone immer weiter von der alten und jüngeren Kritischen Theorie und gab schließlich Theoretikern und Populisten einer neuen Rechten wie Alain de Benoist, der italienischen Lega Nord und den Separatisten von Quebec das Wort in „Telos“.

Dieser Tendenz folgt auch die weiter erscheinende von Russell Bermann redigierte Zeitschrift und das 2004 gegründete Piccone Institut. Mit ihrem dezidierten Bekenntnis zum Populismus könnte sie sogar den neuen Zeitgeist der Ära Trump treffen.

Der Weg der „New German Critique“

Anders die „New German Critique“, die den Wurzeln und Verzweigungen der Kritischen Theorie in der Weimarer Linken und dem deutsch-jüdischen Exil verpflichtet blieb und sich auch der Jüngeren Kritischen Theorie öffnete. Nach frühen Seitenblicken auf die DDR – von Brecht, dessen „Courage“ in Madison aufgeführt wurde, bis zu Wolf Biermann, Christa Wolf und Heiner Müller – wandte sich die Zeitschrift auch dem weiten Feld der durch die westdeutsche „Suhrkamp-Kultur“ repräsentierten Theoriedebatten zu. Doch während „Telos“ sich an einer Amerikanisierung der Kritischen Theorie abgearbeitet hatte, handelte sich „New German Critique“ durch deren Historisierung den – 2001 von Mark M. Anderson polemisch formulierten – Vorwurf einer „Rekanonisierung“ der universitären German Studies ein: Sie habe die deutsche Geschichte von Beginn an neu und mit „jüdischer Zunge“ erzählt.

Robert Zwarg verteidigt die Zeitschrift gegen gegen diesen Vorwurf mit einer bei Adorno entliehenen dialektischen Denkfigur. „Indem die Historisierung der Kritischen Theorie mit ihren eigenen Mitteln verfährt und sie gewissermaßen auf sich selbst zurückwendet, wird deutlich, dass ihr nach wie vor ein Moment des Unabgegoltenen eigen ist.“ Will heißen: Auch sie ist nach wie vor aktuell.

Robert Zwarg: Die Kritische Theorie in Amerika. Das Nachleben einer Tradition; Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017 (Schriften des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur Bd. 27); 464 Seiten, 60 Euro.

Hannes Schwenger

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