Interview zu bedrohten Sprachen: „Viele Junge verlassen die Insel“
Die Berliner Linguistin Kilu von Prince erforscht bedrohte Sprachen im Südpazifik. Ihr Projekt ist eine von 100 bislang durch die Volkswagen-Stiftung geförderten Dokumentationen weltweit. Jetzt läuft das Programm aus.
Frau von Prince, Sie haben im Sprachenrettungsprogramm der Volkswagen-Stiftung zwei Sprachen des Inselstaats Vanuatu im Südpazifik erforscht. Wie rettet man eine bedrohte Sprache?
Es beginnt damit, eine Sprache überhaupt erst einmal zu dokumentieren, alle verfügbaren Daten zu sammeln und dauerhaft aufzuzeichnen, um sie für die Nachwelt zu erhalten. Wir wollen den Sprechern die Möglichkeit geben, ihre Sprache selber zu nutzen. Dafür ist ein guter Kontakt zu einer möglichst großen Gemeinschaft nötig, damit sie sich später mit den Wörterbüchern identifizieren können. Das ist in Vanuatu eine Herkulesaufgabe: Dort gibt es mit 240 000 Bewohnern und 100 Sprachen die weltweit größte Sprachdichte.
In welchem Zustand haben Sie „Ihre“ Sprachen, Daakaka und Dalkalaen, vorgefunden, als Sie zum ersten Mal auf die Vanuatu-Insel Ambrym kamen?
Die Sprachen waren praktisch gar nicht aufgezeichnet. Es existierte nur eine Grammatik einer verwandten Sprache aus dem 20. Jahrhundert. Doch Daakaka und Dalkalaen sind relativ vital, die meisten Kinder lernen sie als erste Sprache. Gleichzeitig sind die Sprechergemeinschaften mit je 1000 Leuten sehr klein, und sozioökonomisch verändert sich dort sehr viel. Weil es kaum Arbeit gibt, verlassen viele Junge die Insel, Menschen aus anderen Gegenden heiraten ein. Da kann es schnell passieren, dass eine Sprache innerhalb weniger Jahrzehnte verschwindet.
Wie gehen Sie praktisch vor? Schließlich konnten Sie die bislang unbeschriebenen Sprachen ja vor ihrem ersten Besuch vor vier Jahren nicht lernen.
Die meisten Sprecher sind bilingual, beherrschen die Kreolsprache Bislama, die ich mir vorher angeeignet habe. Wir fangen dann unmittelbar mit der Datensammlung an, nehmen die Geschichten der Leute auf, ihre Dialoge, machen auch Filmaufnahmen von ihren Ritualen. Das Ganze wird vor Ort verschriftlicht und mithilfe der Bislama-Sprecher übersetzt. Das ist die Datenbasis, aus der ich eine Grammatik erarbeitet habe. Dann haben wir Wörterbücher für den lokalen Gebrauch geschrieben.
Wie erreichen Sie, dass die Sprecher ihre Sprache hinterher auch anerkennen?
Die Leute waren sehr interessiert an dem Projekt. Sie haben sich etwa gewünscht, dass ein lokaler Künstler die Wörterbücher illustriert. Auch bei der Entwicklung der Orthografie waren sie beteiligt. Weil einige Englisch und andere Französisch sprechen, haben wir uns auf lateinische Buchstaben geeinigt. Es gab lange Diskussionen um einzelne Schreibweisen und Laute und um Lehnwörter aus anderen Sprachen, die sie nicht für „gute Sprache“ halten. Die haben wir herausgelassen.
Was hinterlassen Sie den Menschen auf Ambrym nach dem Ende des Projekts?
Wir haben auch Geschichtenbücher gemacht, viele Legenden, Märchen und Kindergeschichten aufgeschrieben, die von ihnen selber als wertvoller Kulturschatz wahrgenommen werden. Mein Doktorvater hat illustrierte Kinderbücher zum Lesenlernen entwickelt, die er demnächst nach Ambrym bringt. Eine Anthropologin aus unserem Team hat Filmaufnahmen von Festen und Zeremonien gemacht, die sich die Schüler und ihre Familien auf von uns hinterlassenen Computern ansehen können. Allerdings fehlt vielerorts der Stromanschluss.
Das digitale Archiv des Programms bleibt bestehen
Wie soll das weitergehen? Die Computer können nicht benutzt werden oder gehen kaputt, die Bücher zerfallen. Sie können kaum sicherstellen, dass Ihre Rettungsversuche nachhaltig sind.
Das Sprachenrettungsprojekt der Volkswagenstiftung ist ja erst im Jahr 2000 angelaufen. Es gibt also noch keine langfristigen Erfahrungen damit, welche Maßnahmen erfolgreich sind und welche nicht. Das kann man erst in 50, 100 oder 200 Jahren evaluieren.
Doch jetzt läuft die Förderung durch die Stiftung aus. Bedeutet das auch das Aus für Ihr Projekt und die rund 100 weiteren Vorhaben in 71 Regionen weltweit?
Die Auswertung der vorhandenen Daten wird von der Stiftung noch weiter gefördert. Aber künftig wird es kaum noch möglich sein, eine Reihe von bedrohten Sprachen systematisch zu dokumentieren. Das ist sehr schade. In Zukunft werden wir etwa bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft viel präzisere Anträge zu einzelnen sprachwissenschaftlichen Fragestellungen einreichen müssen.
Welche Rolle spielt das aus den 100 Projekten entstandene Archiv, das vom Max- Planck-Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nimwegen betrieben wird?
Es spielt eine gigantische Rolle. Dort werden unsere Daten aufbereitet und zugänglich gemacht, für künftige Forschung und für Generationen von Sprechern. Und das Wichtigste: Die Max-Planck-Gesellschaft hat sich verpflichtet, die Finanzierung für mindestens 100 Jahre sicherzustellen.
Sie selber stammen, was Ihr Name Kilu von Prince nicht vermuten lässt, aus einem kleinen Ort in Oberfranken. Wie wurden Sie zur Sprachenretterin?
Es ist wohl mein Familienhintergrund, der mir immer schon klargemacht hat, dass es da draußen die große weite Welt gibt. Mein Urgroßvater hatte britische Wurzeln, war als Mitarbeiter der Kolonialverwaltung in Deutsch-Ostafrika tätig. Bis zum Zweiten Weltkrieg lebte meine Familie im heutigen Tansania. Als Kind stellte ich mir vor, dass Forscher im Urwald Dinge herausfinden, die noch niemand beschrieben hat. Als ich Sinologie und Linguistik studierte, sah ich mich eher als Schreibtischtäterin an der Uni. Und dann hat mich doch mein Kindheitstraum eingeholt.
Das Gespräch führte Amory Burchard.
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