Zukunft der Meere: Verwirrte Fische
Mit dem Kohlendioxidanteil in der Atmosphäre steigt auch der Säuregehalt in den Ozeanen. Forscher untersuchen, welche Auswirkungen das auf Fische und andere Meeresbewohner hat.
Ende des Monats erscheint der neueste Bericht des Weltklimarats. Dann wird wieder über höhere Temperaturen und steigende Meeresspiegel diskutiert. Kein Wunder, schließlich ist der Mensch ein Landtier. Für das Ökosystem Meer ist jedoch eine andere Folge der Treibhausgase bedeutsamer, die laut einer Vorabversion des Berichts „nahezu sicher“ zunehmen wird: die Ozeanversauerung.
Die Weltmeere nehmen etwa ein Viertel des von Menschen verursachten Kohlendioxids auf, rund neun Milliarden Tonnen jedes Jahr. Ohne diesen Puffereffekt würde sich die Erde noch schneller erwärmen. Auf der Kehrseite geraten dabei aber die Ozeane selbst in Gefahr. Denn nachdem das Gas ins Meer gelangt, reagiert es mit dem Wasser und formt Kohlensäure – wie bei der Herstellung von Sprudel. Die Folge: Die Weltmeere werden saurer.
In den letzten 150 Jahren ist der pH-Wert der Ozeane von 8,2 auf 8,1 gefallen. Das mag nicht dramatisch klingen, bedeutet aber, dass der Säuregehalt der Ozeane in diesem Zeitraum um etwa 30 Prozent gestiegen ist. Das ist nur ein Durchschnittswert, je nach Zeit und Lage schwankt der Säuregehalt stark. Doch Forscher schätzen, dass sich der Säuregehalt bis zum Jahr 2100 noch einmal verdoppeln könnte. „Das Leben im Ozean wird sich verändern“, sagt Andreas Andersson vom Scripps-Institut für Ozeanografie im kalifornischen La Jolla. „Wie genau, wie stark und schnell, das sind Fragen, die wir noch erforschen", sagt der Biologe. „Aber die möglichen Folgen sind furchtbar.“
Unmittelbar betroffen sind Lebewesen, die auf Kalk angewiesen sind: Muscheln und Schnecken mit Kalkschalen, und Korallen, die Skelette aus Kalk bauen. Die zusätzliche Kohlensäure erschwert es den Tieren, das Mineral zu bilden. Schon jetzt wächst das Great Barrier Reef vor Australien an einigen Stellen wegen des sauren Wassers langsamer als früher. Sollte sich die Ozeanversauerung tatsächlich wie befürchtet entwickeln, könnten bis zum Ende des Jahrhunderts auch die Kalkschalen von Planktonarten betroffen sein. Da Plankton am Ursprung der Nahrungskette steht, wäre damit das gesamte Ökosystem Meer bedroht.
Seit Jahren erforscht Andersson, wie der steigende Säuregehalt Korallen beeinflusst. Er hat mit Kollegen nachgewiesen, dass bestimmte Rotalgen, die in Korallenriffen eine wichtige Rolle spielen, besonders empfindlich reagieren. Für Andersson ist das ein Warnsignal.
Auch ein Blick in die Vergangenheit der Erde gibt Anlass zur Sorge. Hier ging eine Versauerung oft mit tiefgreifenden Änderungen im Ökosystem Meer einher – bis hin zu Massensterben. In einem der am besten untersuchten Beispiele, dem Paläozän-Eozän-Temperaturmaximum, stieg die Temperatur vor 55 Millionen Jahren innerhalb einiger Jahrtausende um fünf Grad an. Gleichzeitig führte ein erhöhter Ausstoß von Kohlendioxid zu einer Versauerung der Meere. Korallen starben massenhaft und brauchten Hunderttausende von Jahren, um sich zu erholen.
Und vor 252 Millionen Jahren ebnete eine noch größere Katastrophe dem Siegeszug der Dinosaurier an Land den Weg. Über die genauen Ursachen streiten Forscher bis heute. Vermutlich führte aber eine Kombination aus erhöhtem Kohlendioxid in der Atmosphäre und großen Mengen Schwefeldioxid von massiven Vulkanausbrüchen zur Ozeanversauerung, hinzu kamen Temperaturschwankungen. Im Wasser verschwanden damals 90 Prozent aller Arten.
Diese Ereignisse unterscheiden sich in vielen Faktoren von der heutigen Situation und können deshalb kaum für einen direkten Vergleich herangezogen werden. Stattdessen untersuchen Forscher im Experiment, welche Änderungen zu erwarten sind. Während Wissenschaftler schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts den Effekt von erhöhtem Kohlendioxid auf Landpflanzen untersuchten, begannen sie ähnliche Experimente an Meeresbewohnern allerdings erst Jahrzehnte später.
Inzwischen versuchen Wissenschaftler im Labor und im Meer herauszufinden, wie genau einzelne Arten auf die saure Zukunft reagieren werden. Das ist kein leichtes Unterfangen. Erste Arbeiten zeigen, dass der Einfluss der Versauerung von anderen Faktoren wie der Wassertemperatur, der evolutionären Geschichte der jeweiligen Art und dem Nahrungsangebot abhängt. Probleme könnten zunächst in den Polarmeeren sichtbar werden, weil kaltes Wasser mehr Kohlendioxid lösen kann. Manchmal reagieren sogar Vertreter derselben Art, die in derselben Klimazone leben, unterschiedlich.
In einem Laborexperiment konnten Wissenschaftler beispielsweise zeigen, dass Miesmuscheln aus der Nordsee große Probleme mit der Schalenbildung bekamen, wenn sie in Wasser mit dem vorhergesagten Säuregehalt des Jahres 2100 gesetzt wurden. Miesmuscheln aus der Ostsee hatten hingegen keine Probleme. In der Ostsee schwankt der Säuregehalt des Wassers stärker. Die Muscheln haben sich offenbar daran angepasst und können ihren eigenen Säuregehalt regulieren und ihre Schalen schützen.
Viele Organismen werden eine mäßige Versauerung wohl ausgleichen können. Um unter diesen erschwerten Bedingungen Kalk herzustellen, ist allerdings zusätzliche Energie notwendig. Nährstoffe sind in der Ostsee ausreichend vorhanden. Wenn sie aber fehlen, leiden Organismen mehr durch den zusätzlichen Stressfaktor Kohlendioxid. Das legt eine Studie nahe, die in der Nähe der italienischen Insel Ischia im nahrungsarmen Golf von Neapel durchgeführt wurde. Hier speien Vulkanschlote seit Jahrtausenden Kohlendioxid aus. In deren Nähe beobachteten Wissenschaftler um Jason Hall-Spencer von der University of Plymouth, dass kalkbildende Organismen abwesend waren.
Aber auch Lebewesen, die gar keinen Kalk bilden, könnten betroffen sein. Erwachsene Fische können zwar physisch extremen Säurebedingungen standhalten. Doch haben Experimente in den letzten Jahren gezeigt, dass die Säure offenbar ihre Sinne benebeln kann. Ein 2010 veröffentlichtes Experiment zeigte beispielsweise, dass in Korallen lebende Echte Clownfische nach der Zugabe von Säure plötzlich den Geruch von Raubfischen anziehend fanden, anstatt sie wie sonst zu meiden. Raubfische können durch die Säure ebenfalls verwirrt werden. Braune Zwergbarsche mieden in einem Versuch mit erhöhtem Kohlendioxid verletzte Beute.
Auch andere Sinne können leiden. In einer Studie von 2011 wurden Clownfischen im Aquarium Geräusche vorgespielt. Normalerweise schwimmen die Fische dann auf die ruhigere Seite, doch unter erhöhtem Kohlendioxid bewegten sie sich auf die Geräuschquelle zu. Die Säure beeinflusst das Nervensystem der Tiere, der Botenstoff GABA scheint dabei eine wichtige Rolle zu spielen. Offenbar verändert die Säure die Reaktion von Nervenzellen auf das Molekül. Wenn es bei ihnen ankommt, werden sie angeregt und nicht wie sonst gehemmt – und auch das Verhalten ist plötzlich umgekehrt.
„Es wäre möglich, dass kommerziell wichtige Speisefische vor ähnlichen Problemen stehen“, sagt Trevor Branch von der University of Washington. Bisher seien aber nur kleinere tropische Fische untersucht worden, weil sie leichter im Labor zu handhaben sind, sagt der Meeresbiologe. Die Ozeanversauerung beunruhigt den Wissenschaftler. Was aber die Fischbestände angeht, hält er Überfischung für das deutlich größere Problem.
„Wir werden uns wohl auch in hundert Jahren vom Meer ernähren können“, sagt Branch. Womöglich werden dann auf der Speisekarte aber öfter Hummer und seltener Austern zu finden sein. Denn obwohl beide Gruppen auf Kalk angewiesen sind, nutzen Krebstiere eine widerstandsfähigere Form als Muscheln.
Es ist auch noch nicht ausgeschlossen, dass Speisefische direkt in der Entwicklung durch die Versauerung gestört werden. Catriona Clemmesen vom Geomar-Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel hat vergangenes Jahr mit Kollegen einen Versuch veröffentlicht, bei dem Dorschlarven im Labor erhöhten Konzentrationen von Kohlendioxid ausgesetzt waren und schwere Schäden erlitten. Doch das Experiment ist in Forscherkreisen umstritten, der verwendete Säuregehalt war deutlich höher als die Werte, die in den nächsten Jahrzehnten in den Meeren erwartet werden.
Clemmesen hat deswegen dieses Jahr vor der schwedischen Küste Fischlarven unter realistischeren Bedingungen getestet, mithilfe von zehn „Mesokosmen“. Das sind 20 Meter lange Säcke aus dünnem Plastik, die rund 55 000 Liter Wasser aufnehmen können. Zunächst sind sie oben und unten geöffnet, so dass die Organismen, Plankton, Quallen, Fischlarven, hineingelangen können, dann werden sie geschlossen. Wie riesige Reagenzgläser schweben sie dann, von Bojen festgehalten, im Meer und umschließen ein ganzes Ökosystem. In fünf der Säcke pumpten die Wissenschaftler Kohlendioxid um das Meerwasser im Jahr 2100 zu simulieren, fünf enthielten normales Meerwasser.
Geistiger Vater der Anlagen ist Ulf Riebesell vom Geomar. Der Vorteil gegenüber Laborexperimenten: Statt sich auf einzelne Arten zu beschränken kann hier die Wirkung der Säure auf ganze Nahrungsketten erforscht werden. So können die Biologen auch indirekte Effekte berücksichtigen, zum Beispiel wenn einer größeren Art plötzlich die Nahrung ausbleibt. Und damit nicht nur Verlierer sondern auch Gewinner der Versauerung identifizieren.
Die Erkenntnis, dass manche Organismen stark von der neuen Chemie profitieren, gehört für Riebesell zu den wichtigsten Entwicklungen des Gebiets in den letzten Jahren. Seegräser zum Beispiel gedeihen im sauren Wasser besonders gut. Ähnliches gilt für Picophytoplankton; diese kleinsten Organismen, die Fotosynthese betreiben, stehen ganz unten auf der Nahrungskette. Doch ihr Florieren auf Kosten von größerem Plankton, wie den Kieselalgen, könnte ein Problem sein. Die Biomasse, die von den Kleinsten aufgebaut wird, bleibt dann unter niederen Organismen und kommt bei großen Tieren kaum an.
Clemmesen will nun klären, ob Fische zu den Gewinnern oder den Verlierern zählen. Sie hat dieses Jahr Heringseier in den Säcken getestet, die Ergebnisse müssen noch ausgewertet werden. Doch die Mesokosmen haben bereits stichhaltige und beunruhigende Ergebnisse anderer Art hervorgebracht. Mikroorganismen, die im Wasser schweben und Fotosynthese machen, produzieren einen Stoff namens Dimethylsulfid (DMS). Ein Teil davon gelangt in die Atmosphäre und befördert dort die Bildung von Wolken, die wiederum Sonnenlicht reflektieren. Auch auf diese Art und Weise wirken die Meere also der Klimaerwärmung entgegen.
In einem Experiment mit Mesokosmen stellte das Team um Riebesell allerdings fest, dass in den Säcken mit saurerem Wasser weniger DMS ausgestoßen wird. Die Gründe dafür sind noch unklar, aber der Effekt aufs Klima könnte drastisch sein. Ein Team von Wissenschaftlern um Ernst Maier-Reimer vom Max-Planck-Institut für Meteorologie hat im August im Fachblatt „Nature Climate Change“ eine Studie veröffentlicht, welche die DMS-Ergebnisse des Geomar-Teams in Klimamodelle einfließen lassen. Sie kommen auf eine zusätzliche Klimaerwärmung von bis zu einem halben Grad bis zum Jahr 2100.
Für bessere Vorhersagen benötigen Forscher aber weit mehr Daten als aus einer Handvoll Forschungszylinder. Dafür sind unter anderem mehr Messwerte über die tatsächliche Veränderung des Säuregehalts auch in den Tiefen der Ozeane nötig. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die private Xprize-Stiftung vor wenigen Tagen zwei Preise von je einer Million Dollar für billigere und bessere Säuresensoren ausgelobt.
Dennoch werde die Ozeanversauerung nach wie vor nicht ernst genug genommen, glaubt Andersson. Wie viele Menschen in Kalifornien hat er für den Fall eines großen Erdbebens Vorkehrungen getroffen: Die Regale an die Wand geschraubt, Gläser sicher verstaut, Notfallkits mit Werkzeugen, Nahrung und Wasser zu Hause und in seinem Büro deponiert. Doch auf die Ozeanversauerung habe sich die Gesellschaft kaum vorbereitet, kritisiert der Forscher. „Meine größte Angst ist, dass wir wissen dass sie passiert, warum sie passiert und wie wir sie aufhalten könnten, aber nichts tun.“
Hristio Boytchev