Räuberische Fachverlage: Veröffentlichen um jeden Preis
Tausende deutsche Forscher publizieren in Zeitschriften ohne wissenschaftliche Qualitätsstandards. Das ist vor allem ein Symptom für die zweifelhaften Anreize des Wissenschafts-Systems. Ein Gastbeitrag.
Weltweit reichen Wissenschaftler namhafter Institutionen, auch der Charité, ihre Forschungsarbeiten bei Fachzeitschriften ein, die sich nicht an wissenschaftliche Standards halten. Diese "Raubverlage" lassen die Forschungsergebnisse nicht von Experten prüfen, sondern veröffentlichen – gegen Bezahlung – sogar frei erfundene Studien. Das ergab eine aktuelle Recherche. Sind Wissenschaftler, die in Raubjournalen veröffentlichen, also alle Schummler? Verschaffen sie sich berufliche Vorteile bei der Erteilung akademischer Würden?
Was sind Raubverlage?
Seriöse wissenschaftliche Verlage zeichnet aus, dass sie zur Veröffentlichung eingereichte Forschungsarbeiten durch andere Forscher begutachten lassen. Raubverlage sparen sich dieses aufwändige "Peer Review"-Verfahren und veröffentlichen die Arbeiten kurzfristig und ohne Änderungen auf ihren Websites. Dafür erheben sie eine Gebühr. Das tun allerdings auch einige der renommierten wissenschaftlichen Verlage.
Deshalb ist es für die Forscher nicht immer leicht zu erkennen, ob es sich um einen Raubverlag handelt. So wirken etwa die Emails, in denen sie bei Forschern um einen Aufsatz werben, durchaus seriös. Manche "Fake-Journals" haben eine lange Geschichte, waren einmal renommiert und haben erst später wissenschaftliche Standards über Bord geworfen.
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Außerdem tragen die Scheinverlage oft wohlklingende Namen, die an die anerkannten Verlagshäuser erinnern. Die Täuschung geht mitunter sogar so weit, dass sich die Fake-Journals mit den Namen bekannter Forscher, auch von der Charité, schmücken, die als Herausgeber bezeichnet werden, obwohl diese gar nichts von ihrem zweifelhaften Glück wissen – in der Regel wurden sie nicht um Erlaubnis gefragt.
Publish or perish
Das zweifelhafte Geschäftsmodell der Raubverlage kann nur funktionieren, wenn sich für sie auch Kundschaft findet. Warum also lassen sich ordentliche Wissenschaftler auf so etwas ein? Die Erklärung dafür ist recht geradlinig. In der Wissenschaft gilt die Devise "Publish or perish": Wer nicht publiziert, fliegt raus.
Allein aus der Charité werden jährlich über 4000 wissenschaftliche Artikel veröffentlicht, mehr als 600 Promotionen und 50 Habilitationen abgeschlossen. Das liegt (auch) daran, dass die Qualität der Arbeit eines Forschers großteils an der Zahl seiner veröffentlichten Aufsätze gemessen wird. So werden etwa von Wissenschaftlern, die an der Charité die Lehrbefähigung (Habilitation) erlangen wollen, mindestens zehn begutachtete Originalarbeiten als Erst- oder Letztautor verlangt.
Ist das alles Scheinwissenschaft?
Wer sich die Artikel von Charité-Forschern in Raubjournalen im Detail anschaut, stellt fest: Das sind in den allermeisten Fällen korrekt durchgeführte und beschriebene Studien. Wie immer gibt es darunter bessere und schlechtere Arbeiten, wie das auch in der "normalen" biomedizinischen Literatur der Fall ist.
Etwa 70 Arbeiten aus der Charité, die das Rechercheteam gefunden hat, sind zu einer Zeit in einem Journal veröffentlicht worden, als dieses noch Gutachter konsultierte und einen ansehnlichen Ruf genoss.
Gespräche mit Kollegen, die in "räuberischen" Fachzeitschriften veröffentlichten, zeigen auch: Häufig handelt es sich um Studien, die sie zuvor bei verschiedenen, hochrangigen Journalen eingereicht haben, aber von den Gutachtern abgelehnt wurden. Das passiert häufig und muss nicht heißen, dass eine Arbeit nichts taugt – letztlich könnte man es sogar positiv werten, dass die öffentlich finanzierte Forschung überhaupt veröffentlicht wurde und so anderen Wissenschaftlern und der Allgemeinheit zur Verfügung steht.
Kein makelloses Begutachtungssystem
Außerdem muss man berücksichtigen, dass das "Peer Review" nicht die einzige und auch keine ideale Qualitätskontrolle ist. Oftmals ist es interessengeleitet oder einfach oberflächlich. Mitunter fordern die Gutachter auch zusätzliche Experimente, die von der Forschergruppe dann wegen Geld- oder Personalmangel nicht mehr durchgeführt werden können. Und nicht zu vernachlässigen ist auch, dass die Redakteure oder Gutachter einer angesehenen Fachzeitschrift das Resultat einer Studie einfach nicht spektakulär genug oder gar „negativ“ einstufen und nur aus diesem Grund ablehnen.
Nicht auszuschließen ist allerdings, dass unter den Veröffentlichungen in Raubjournalen auch Betrügerisches zu finden ist. Dies muss nun überprüft und gegebenenfalls sanktioniert werden. Schwarze Schafe, die es in jedem System gibt, müssen gefunden werden. Das löst aber nicht das eigentliche Problem, das durch das Belohnungssystem der Wissenschaft entsteht.
Falsche Anreize: Masse statt Klasse
Raubverlage nutzen ein grundlegendes Problem des akademischen Karriere- und Anreizsystems aus. Wissenschaftler beurteilen sich häufig gegenseitig nach quantitativen, leicht messbaren Größen. Dazu gehört die Anzahl der Veröffentlichungen, das Renommee oder der Rang ("Impact factor") der Zeitschrift, in der sie erschienen sind. Auch die Höhe der eingeworbenen Forschungsgelder wird in der Bewertung berücksichtigt. Doch das sind alles nur indirekte Anhaltspunkte, die nur wenig mit der Qualität der Wissenschaft oder deren gesellschaftlicher Relevanz zu tun haben.
Die Folge des bestehenden Bewertungssystems ist: Es wird zu viel publiziert. Allein im Bereich der Medizin erschienenen im Jahr 2017 fast 1,3 Millionen Forschungsaufsätze. Untersuchungen belegen, dass mehr als 90 Prozent der gesamten Literatur gar nicht gelesen wird. Trotzdem werden etwa die Hälfte mindestens einmal zitiert, häufig also ungelesen.
Kommissionen, die etwa über die Habilitation von Forschern entscheiden sollen, können all diese vielen Publikationen gar nicht mehr überprüfen. Den Inhalt und die Qualität einer Forschungsarbeit zu bewerten, ob sie eine wichtige Frage untersuchte und methodisch gut durchgeführt wurde, dafür hat kaum noch jemand Zeit.
Nur positive Ergebnisse zählen
Studien werden im Wesentlichen danach beurteilt, ob sie ein positives Resultat haben, also nicht nur bereits Bekanntes bestätigen. Ob sie gut gemacht waren und ein verlässliches Ergebnis haben, spielt keine so große Rolle. Deshalb lesen wir auch jeden Tag in der Zeitung über die demnächst bevorstehende Heilung von Alzheimer, Krebs und so weiter, ohne dass diese Versprechen bisher eingelöst worden wären.
Forscher können Studien mit negativen oder unklarem Resultat nur schwer in den vielgelesenen und renommierten Fachblättern platzieren. Auch hierin liegt die Verlockung des Angebots der unseriösen Verlage, denn diese veröffentlichen schließlich alles.
Zudem gibt es deutliche Hinweise darauf, dass mehr als 80 Prozent aller biomedizinischen Forschungsergebnisse schlicht falsch sind. Viele Resultate – durchaus auch jene, die in besonders renommierten Zeitschriften erschienen – konnten andere Wissenschaftler in unabhängigen Experimenten nicht wiederholen.
Ein Weckruf, um die Ursachen anzugehen
Das Problem ist nicht beschränkt auf Berlin, es ist kein Skandal um "Scheinwissenschaft" an deutschen Universitäten, sondern sollte ein globaler Weckruf für die Wissenschaftsgemeinschaft sein. Es geht im Grunde gar nicht um Raubverlage, denn diese nutzen nur einen Fehler im System. Auch eine Stigmatisierung derer, welche ordentliche Studien bei Raubverlagen veröffentlicht haben, bringt niemanden weiter.
Zwar ist es wichtig, Forscher aufzuklären, wie Raubverlage zu erkennen und zu meiden sind. Auch dürfen Artikel in dubiosen Journalen nicht auf Lebensläufen in akademischen Verfahren auftauchen. Entscheidend ist aber, die Ursachen des Problems zu bekämpfen.
Das Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIG) hat hierfür bereits vor über einem Jahr eigens das "QUEST-Center für die Transformation der Biomedizinischen Forschung" geschaffen. Es soll die Wissenschaftler an Charité und Max-Delbrück-Centrum dabei unterstützen, qualitativ hochwertig zu forschen. Der Nachwuchs lernt hier etwa, wie robuste und reproduzierbare Forschung funktioniert.
Anreize für eine bessere Wissenschaft
Auch das akademische Anreiz- und Karrieresystem muss sich ändern. An der Charité werden deshalb seit kurzem Bewerber auf Professuren nach qualitativen, qualitätsorientierten Indikatoren befragt. Für die Karriere zählt also nicht mehr nur, wie innovativ die Forschung ist. Auch die wissenschaftliche Sorgfalt oder Transparenz spielt eine Rolle und ob die erarbeiteten Daten aus einer Studie auch anderen Wissenschaftler zugänglich gemacht werden oder ob Patienten in die Planung klinischer Studien einbezogen werden.
Wissenschaftler des BIG bekommen etwa ein Preisgeld in Form eines kleinen Zuschusses zum Forschungsetat, wenn sie auch „negative“ Forschungsergebnisse publizieren – etwa dass eine Behandlung oder ein Diagnoseverfahren nicht funktioniert. Ähnliche Anreize gibt es für Forscher, die Studien anderer Arbeitsgruppen wiederholen und dadurch neue Erkenntnisse validieren.
Berlin hat eine lange Geschichte als Vorreiter in der Gesundheitsforschung. Die Stadt kann diese Rolle leicht verteidigen. Außerdem kann sie sich der weltweiten Bewegung, die biomedizinische Forschung besser und nützlicher machen will, anschließen und sie gestalten. Damit stärkt sie auch das Vertrauen in diesen wichtigen Wissenschaftsbereich.
Ulrich Dirnagl ist Neurologe, Direktor der Experimentellen Neurologie an der Charité Universitätsmedizin Berlin und Gründer des Quest-Center am BIG
Ulrich Dirnagl