Corona-Pandemie als Wegbereiter: Vereinbarkeit von Job und Familie an Hochschulen soll Chefsache werden
An den deutschen Hochschulen brauche es vor allem Maßnahmen zur Entlastung von Frauen. Zu diesem Schluss kommt das Centrum für Hochschulentwicklung.
Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass das Thema Familiengerechtigkeit „flächendeckend und dauerhaft auf höchster Leitungsebene“ an den deutschen Hochschulen verankert werden sollte. Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle Publikation des gemeinnützigen Centrums für Hochschulentwicklung (CHE).
„Die Corona-Pandemie hat für alle sichtbar gemacht, welche enorme logistische Leistung Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit familiären Verpflichtungen neben ihren Veröffentlichungen vollbringen“, sagte CHE- Geschäftsführer Frank Ziegele.
Die CHE-Publikation „Der Weg zur familienorientierten Hochschule – Lessons Learnt aus der Corona-Pandemie“ zu dem Thema ist am 24. Februar erschienen, die Ergebnisse stammen aus Interviews mit acht Familienverantwortlichen an sechs deutschen sowie einer österreichischen Hochschule im Zeitraum Juni bis September 2020.
Alle Hochschulen gehören zum Netzwerk „Familie in der Hochschule“. Zentrales Ergebnis der Studie ist der Bedarf an strategischen Gesamtkonzepten zur Förderung der Familiengerechtigkeit, die von Hochschulleitungen, Personalverantwortlichen und Familienbüros gleichermaßen getragen werden müssen.
Demnach stehen gerade Frauen durch die Doppelbelastung durch Job und Familie besonders unter Druck. Insbesondere der Wegfall der Kinderbetreuung und der ambulanten Pflege habe zu einer Verschärfung bereits bestehender Ungleichheiten geführt.
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„Frauen leisten nach wie vor den Großteil der Care-Arbeit und erreichen etwa durch geschlossene Kitas und Schulen zunehmend ihre Belastungsgrenzen“, erläutert Sarah Wenz vom Vorstand des Vereins „Familie in der Hochschule“, der zusammen mit dem CHE die Befragung initiiert hat.
„Was wir brauchen, ist eine noch stärkere Familienorientierung und schnelle, wirksame, aber auch langfristige Maßnahmen zur Entlastung insbesondere der weiblichen Hochschulangehörigen, um einer Benachteiligung und möglichen Gefährdung ihrer beruflichen Karriere vorzubeugen“, sagte Wenz vor dem Hintergrund er aktuellen CHE-Untersuchung. Das Thema betreffe nicht nur Mitarbeitende der Hochschulen, sondern auch Studierende, von denen rund sieben Prozent eines oder mehrere Kinder haben.
Mehrfachbelastung durch Betreuung in der Pandemie
Die Universität Potsdam zählt bundesweit zu den wenigen Hochschulen, an denen Daten zum Thema Familie und Beruf vorliegen. Sowohl unter Dozenten als auch in Verwaltung hat demnach knapp die Hälfte der Mitarbeiter:innen Kinder. Zu den Bereichen Verwaltung und Technik wurde eine gesonderte Untersuchung zu Arbeitssituation während der Pandemie im vergangenen Jahr verfasst.
Sie zeigt, dass fast 90 Prozent der Mitarbeitenden mit familiären Pflege- oder Betreuungsaufgaben sich in der Pandemie stärker belastet fühlen als zuvor, 56 Prozent davon sogar sehr viel stärker. Neben der Betreuung von Kindern gaben sechs Prozent an, Angehörige zu pflegen. Mitarbeiter:innen mit Grundschulkinder fühlten sich demnach signifikant stärker belastet als Befragte deren Kinder weiterführende Schulen besuchen.
Die Koordinatorin des Gesundheitsmanagements an der Universität Potsdam, Michaela Schinköth, sagte dem Tagesspiegel dazu, dass die Hochschule in der Pandemie einen gesonderten Blick auf Beschäftigten mit Pflege- und Betreuungsaufgaben richten müsste, die nun Mehrfachbelastungen ausgesetzt sind.
„Hier sollten von Seiten der Universität spezifische und manchmal auch individuelle Lösungen gesucht werden, um langfristig die Gesundheit der Beschäftigten nicht zu gefährden.“ Die Potsdamer Universität bezeichnet sich selbst als familiengerecht und hat die Vereinbarkeit von Studium, Beruf und Familie in der Profilbildung der Hochschule fest integriert.
Aus der CHE-Studie geht auch hervor, dass Hochschulen, bei denen das Thema Familienorientierung bereits vor Corona Priorität hatte, im Krisenmanagement im Vorteil waren und wertvolle Zeit gewinnen konnten. Gerade jetzt sei der richtige Zeitpunkt sicherzustellen, dass der Faktor Familienorientierung auch langfristig und auf jedem Campus mitgedacht wird, so CHE-Geschäftsführer Ziegele. „Die Honorierung von Care- und Gremienarbeit, wie sie an einigen Hochschulen bereits für den Bereich Leistungsbeurteilung diskutiert wird, sollte deshalb auch in Berufungs- und Einstellungsverfahren praktiziert werden.“
Karriereförderung und Personalentwicklung sind ein Bereich, in dem nach Ergebnissen der Befragung während der Pandemie Missstände und Entwicklungsbedarfe besonders deutlich ins Blickfeld gerückt sind. Die bereits bestehende Benachteiligung von Professorinnen und weiblichem wissenschaftlichem Nachwuchs sei durch die Doppelbelastung während der Pandemie besonders offenkundig zu Tage getreten, heißt es vom CHE. Hintergrund sei, dass die Care-Arbeit, also Pflegetätigkeiten oder Kinderbetreuung, in dieser Zeit vermehrt von Frauen aufgefangen wurde.
Die Interviews zeigen auch, dass Hochschulen ganz unterschiedlich weit auf dem Weg zu einer familiengerechten Hochschule sind. Deutlich wurde demnach, dass an Hochschulen, die während der Corona-Pandemie einen Vorteil hatten, das Thema Familiengerechtigkeit bereits gut strukturell verankert war.
So sei dort das Thema neben eigenen Service-Stellen und Familienbüros auf Leitungsebene, etwa in einem Prorektorat, angesiedelt. „Für solche Hochschulen war es leichter, ad hoc neue Unterstützungsinstrumente zu schaffen oder bestehende Maßnahmen, wie die Arbeit im Homeoffice, auszubauen“, so das CHE.
Großes Potential durch Arbeit im Homeoffice
Angesichts der Studienergebnisse erscheine die bisherige Annahme, dass für Verwaltungstätigkeit im Gegensatz zu wissenschaftlicher Arbeit Präsenz erforderlich ist, überholt. In beiden Bereichen sei Arbeit im Homeoffice möglich. „Die Verlagerung der Arbeit ins Homeoffice birgt ein großes Potential für die Freisetzung von Zeitressourcen, die den Familienalltag erleichtern können“, heißt es dazu.
In der Coronakrise sei plötzlich vieles möglich geworden, was zuvor nicht umsetzbar war. „Homeoffice und Vertrauensarbeitszeit, digitales Arbeiten – die Erfahrungen in der Krise haben einerseits gezeigt, dass es funktioniert, andererseits aber auch Grenzen und Risiken offenbart“, schreiben die Autror:innen der Studie.
Diese Erfahrungen sollten jetzt für weitere Schritte zur Familiengerechtigkeit genutzt werden. „Was in der Krise als Experiment durchgeführt wurde und sich bewährt hat, kann in den Normalbetrieb überführt werden.“
Die Hochschulen sollten für diese Veränderungen direkt den Übergang zum Normalbetrieb nutzen, empfehlen die Autor:innen.
In der Publikation sind 17 Handlungsempfehlungen aufgeführt, anhand derer die Hochschulen ihre Aktivitäten zum Thema Familiengerechtigkeit überprüfen und profilieren können. Demnach gehöre das Thema unbedingt auf die Agenda. Die systematische Ausgestaltung der Familienorientierung sollte anhand der Themenfelder Hochschulführung, Kultur, Flexibilisierung von Arbeit und Studium, Karriere- sowie Gesundheitsförderung erfolgen. Zudem sollte es als Querschnittsthema in der Personalentwicklung verankert werden. Auch gelte es zu prüfen, ob gesetzliche Vorgaben in diesem Kontext novelliert werden sollten.
Jan Kixmüller