Tabubruch: Verbotene Geschwisterliebe
Der Deutsche Ethikrat diskutierte, ob einvernehmlicher Inzest unter Verwandten ersten Grades weiter strafbar sein muss.
Vier Unsterbliche hat Göttervater Zeus mit seiner Schwester Hera gezeugt, in der germanischen Mythologie ist der Drachentöter Siegfried das Kind des Zwillingspaares Siegmund und Sieglinde. Doch was Jupiter darf, ist Sterblichen nicht erlaubt: In Leipzig wurde Patrick S. vor einigen Jahren nach Paragraph 173 des Strafgesetzbuches zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er mit seiner Schwester eine langjährige, einvernehmliche sexuelle Beziehung hatte, aus der vier Kinder hervorgingen. Ein Urteil, das das Bundesverfassungsgericht für verfassungskonform erklärte und das am 12. April dieses Jahres vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als mit der Menschenrechtskonvention vereinbar bezeichnet wurde. Die große mediale Beachtung, die diese Klarstellung fand, hat sicher auch mit der Mischung aus Faszination und Abscheu zu tun, die sexuelle Geschwisterliebe hervorruft.
Nun hat sich der Deutsche Ethikrat mit der sexuellen Geschwisterliebe befasst und gestern vier Experten zu einer öffentlichen Anhörung nach Berlin eingeladen. Das Gremium habe dabei vor allem die Begründung des Bundesverfassungsgerichts bewegt. Neben der bedenklichen Wirkung auf die familiäre Ordnung spiele darin, im Zusammenhang mit Kindern, die aus solchen Beziehungen hervorgehen könnten, auch der Begriff der „Volksgesundheit“ eine Rolle.
Inzest, abgeleitet vom lateinischen incastus, ist wörtlich eine „unkeusche“ Beziehung. Die Inzestdebatte sei aufgeladen durch Missbrauch und Gewalt, am Rande auch durch Verwandtenehen von Migranten, sagte Hans-Jörg Albrecht vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg. In seltenen Fällen ginge es aber um sexuelle Beziehungen zwischen erwachsenen Verwandten ersten Grades wie Geschwistern oder Eltern und ihren volljährigen Kindern. Dieser Straftatbestand habe seit den 60er Jahren in jedem Jahr zur Verurteilung von nur etwa zehn Bürgern geführt. Auch die Forschung habe sich fast völlig auf die Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs konzentriert und liefere kaum Erkenntnisse zum einvernehmlichen Inzest, sagte der Jurist, der im Jahr 2007 auch ein Gutachten im Auftrag des Verfassungsgerichts erstellte. Es sei bemerkenswert, dass die moderne Welt sich seit der Aufklärung in zwei Lager aufteile, was die Frage des Straftatbestands betrifft. Albrecht machte kein Hehl daraus, welchem Lager er sich zuordnen würde: „Die Hälfte der Europäer lebt ohne etwas, das unserem Paragraphen 173 nahekommt, und das sind auch zivilisierte Menschen.“
Ein Argument für das Inzestverbot ist das erhöhte Risiko für genetische Erkrankungen. Der Bonner Humangenetiker Markus Nöthen bestätigte das für Ein-Gen-Erkrankungen. Beide Eltern könnten zwar gesund sein, aber dennoch eine rezessive Erbanlage für so eine Krankheit in sich tragen. Ihre Kinder hätten ein deutlich erhöhtes Risiko, gerade diese Anlage zu erben und krank zu werden. Prinzipiell könnte man aber beide Partner vor einer Schwangerschaft testen, sagte der Humangenetiker. Ein erhöhtes Risiko für Krankheiten, die ein ganzes Bündel von Genen als Ursache haben, sei nicht feststellbar.
Wenn gesellschaftliche Schranken gegen die „Blutschande“ errichtet werden, geht es ohnehin nicht allein um nahe biologische Verwandtschaft, betonte die Historikerin Claudia Jarzebowski von der Freien Universität Berlin. Im ausgehenden Mittelalter habe man auch Menschen, die nicht das Blut, sondern eine spirituelle Verwandtschaft verband, in das Verdikt eingeschlossen. Jarzebowski versteht das Inzestverbot als symbolische Schranke, deren Aufhebung Gesellschaften destabilisieren könnte – selbst wenn es dann nicht deutlich mehr Fälle geben sollte: „Ich plädiere dafür, die Bedeutung solcher gesellschaftlichen Grenzziehungen nicht zu unterschätzen.“
Die österreichische Pädagogin und Psychologin Andrea Bramberger fürchtet dagegen, dass diese Grenzziehung Isolation und Fremdbestimmung der Betroffenen verstärkt: „Heute ist nicht klar, ob das Verbot die Probleme durch Verschleierung verschärft.“ Dafür sprechen auch Gespräche von Mitgliedern des Ethikrates mit einigen betroffenen Paaren, die von Druck und Heimlichtuerei erzählen. Die meisten von ihnen seien nicht zusammen aufgewachsen und hätten sich, als Halbgeschwister, erst als Erwachsene kennengelernt.
Ethisch akzeptable Lösungen müssen das Wohl eventueller Kinder im Blick haben, das wurde in der Diskussion deutlich. Und weil immer wieder das Argument der Vererbung falle, gehöre das Thema zu den Lebenswissenschaften und in den Ethikrat, betonte dessen Vorsitzende Christiane Woopen. In der Diskussion wurde ausdrücklich zwischen dem – tatsächlich erhöhten – individuellen Risiko jedes einzelnen Kindes, das aus einer inzestuösen Beziehung hervorgeht, und dem Risiko für die Gemeinschaft unterschieden. Letzteres sei gering. Der Humangenetiker Markus Nöthen hob hervor, dass sich sein Fachgebiet von Konzepten wie „Volksgesundheit“ aus gutem Grund abgewandt habe und sich immer dem Einzelnen und seiner Familie widme. Am Ende war zumindest eine Grenze unstrittig, die das Ethikrat-Mitglied Michael Wunder formulierte: „Eugenische Begründungen sind obsolet und müssen zurückgewiesen werden.“
Adelheid Müller-Lissner
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