Meeresbiologie: Unterwasser-Blumengärten in Gefahr
Korallenriffe schützen das Festland und sichern die Artenvielfalt – aber drei Viertel aller Riffe sind bedroht.
Sind Sie reif für die Insel? Schließen Sie doch einfach die Augen und versetzen sich in Gedanken in die Karibik. Tauchen Sie ab. Sie sehen eine schier unglaubliche Vielfalt, bunte Doktor- , Papagei- und Kaiserfische, die Farbenpracht des Regenbogens in Form von Schwämmen, Weichkorallen und Schnecken sowie fantastische Steinkorallengebäude aus schrägen Pfeilern und symmetrischen Gewölben, wie sie nicht einmal Antoni Gaudi hätte konstruieren können.
Zeit, aufzuwachen. Nichts ist mehr wie es einmal war. Würden Sie nämlich dort unten wirklich die Augen offen haben, sähen Sie mit großer Wahrscheinlichkeit nur kahle, leere Steinwüsten statt eines lebenden Korallenriffs. Den Riffen geht es so schlecht wie nie.
Aber Wegschauen ist nicht angebracht. Darauf wird uns auch die 9. UN-Konferenz der Konvention über Biologische Vielfalt hinweisen, die im Mai in Bonn mit Teilnehmern aus 190 Staaten stattfinden wird. Im Zentrum des politischen Interesses stehen dabei neben dem Schutz und der nachhaltigen Nutzung der Wälder auch die Meeresökosysteme. Mit 30 Billionen Dollar pro Jahr bemisst eine 1997 veröffentliche Studie den gesellschaftlich-ökonomischen Wert der Vielfalt des Lebens. Es geht also um viel. Auch viel Geld.
Für die komplexesten Ökosysteme der Meere ist es fünf vor zwölf. So gilt nicht nur die beeindruckende Ikone der karibischen Korallenriffe, die mächtige Elchgeweihkoralle Acropora palmata als extrem gefährdet, auch global betrachtet sieht es nicht besser aus. Drei Viertel aller Korallenriffe sind ernsthaft bedroht und könnten bis zum Jahre 2050 oder 2100 vollständig ausgestorben sein. Derzeit sind bereits 20 Prozent komplett verloren, die Zunahme abgestorbener Riffe betrug über die letzten 20 Jahre etwa ein Prozent pro Jahr der noch vorhandenen Korallenriffe, und stieg nun auf zwei Prozent an. Dies ist viermal so hoch wie der Rückgang der tropischen Regenwälder.
Präsentiert das Museum für Naturkunde nun unter dem Namen „abgetaucht“ eine Korallenriffausstellung als Nachruf, um die Korallen, von denen etliche inzwischen ausgestorben sind, nochmals zu zeigen und ihnen „auf Nimmerwiedersehen“ zu sagen?
Nein, trotz aller Schönheit, aller Farbenpracht, aller paradiesischen Vorstellungen, die man vielleicht mit Korallenriffen verbindet. Wehmütige Naturromantik ist fehl am Platz, denn Korallenriffe braucht jeder von uns, auch wenn dies nur wenigen bewusst ist. Den ökologisch-ökonomischen Dienstleistungswert der tropischen Korallenriffe beziffert die eingangs erwähnte Studie auf weit über 300 Milliarden Dollar pro Jahr.
Korallenriffe schützen zigtausende Kilometer tropischer Festlands- und Inselküsten vor tropischen Stürmen. 25 Prozent allein des asiatischen Fischfangs ist von funktionierenden Riffen abhängig, denn auch Hochsee- und Lagunenfische kommen zum Fressen ans Riff oder haben dort ihre Kinderstube. Korallenriffe haben auch pharmazeutisches Potenzial.
Von immenser Bedeutung sind Korallenriffe zudem als Tourismusfaktor. Viele karibische Länder leben fast ausschließlich von Touristen. Dabei geht es nicht nur um die Tauchtouristen, sondern um alle, die gerne an weißen, palmenbestandenen Stränden liegen und in blauen Lagunen baden. Beides gäbe es so nicht ohne Korallenriffe, denn Lagunen bilden sich meist dadurch, dass hochwachsende Korallenriffe aktiv eine Trennung vom hochenergetischen offenen Ozean herbeiführen. Ohne Riffe wären die Sandstrände an vielen Stellen schnell abgespült. Diese Erfahrung mussten viele Touristenressorts machen, als sie Korallenriffe abbauten, um Sportbooten einen einfacheren Zugang ins offene Meer zu ermöglichen.
Also genügend Gründe, um die Unterwassergärten zu schützen. Aber wie denn genau? In Korallenriffen spielt alles zusammen, Faktoren können sich verstärken, gegenseitig aufheben, verzögern oder beschleunigen. Kippschaltereffekte, bei denen dann das ganze Ökosystem zusammenklappt, sind häufig, Vorhersagen dazu oft noch schwierig. Die Klimaerwärmung trägt beachtlich zur Schädigung bei, aber oft liegt dies daran, dass die Vorschädigungen durch Überdüngung und Überfischung oft schon gewaltig sind, diese abzustellen ist also essenziell.
Ab und an ein Hurrikan, das kann für ein intaktes Riff sogar ein Jungbrunnen sein. Bei einem überfischten Riff setzen sich aber Weichalgen auf die abgebrochenen Äste und verhindern eine Erholung. Schutzgebiete helfen bei Überfischung. Aber nur, wenn das Wasser im Schutzgebiet sauber und nährstoffarm ist – vor einer Flussmündung, durch die vielleicht wegen Regenwaldabholzung besonders viel Schlick gespült wird, hilft kein Schutzgebiet.
Fläche allein genügt also nicht. Die Schutzgebiete müssen auch noch über die vorherrschende Strömung im Austausch stehen. Sonst findet keine Korallenlarve den Weg zum nächsten Riff.
Deswegen funktioniert Riffschutz nur in Kooperation mit Riffforschung. Die ist am Museum für Naturkunde ein wichtiges Thema – genau wie die Evolution des Lebens unter Wasser. Während der Erdgeschichte hat sich das Ökosystem Korallenriff laufend verändert und dabei immer wieder selbst optimiert.
Noch zur Jurazeit, als die großen Dinosaurier des Naturkundemuseums lebten, wuchsen Riffe häufig in nährstoffreichen Gewässern. Auch der Berliner Brachiosaurus wurde in Nähe solcher fossilen, landnahen Korallenriffe gefunden. Dann aber haben sich tropische Korallenriffe ihre Nische in nährstoffarmen Gewässern gesucht.
Andere Korallen sind in kalte, tiefe Wässer abgewandert und bilden dort heute ein völlig anderes Ökosystem, nämlich Kaltwasserkorallenrasen, wie sie etwa vor Norwegen oder Grönland vorkommen. Diese leben in dunklen Gewässern und sind auf hohen Nährstoffeintrag angewiesen. Ihre Bedeutung für den globalen Fischfang ist zwar noch nicht komplett verstanden, offensichtlich aber ebenfalls riesig. Doch auch sie sind durch Schleppnetzfischerei gefährdet. Die Erdgeschichte zeigt, dass in Zeiten, in denen Riffe große Artenvielfalt hatten, auch Umweltbelastungen der Vergangenheit deutlich besser verkraftet wurden.
2008 koordiniert das Museum für Naturkunde nun die deutschen Aktivitäten zum 2. Internationalen Jahr des Riffs (IYOR 2008), und die Rahmenbedingungen lassen hoffen. Bundesumweltminister Sigmar Gabriel ist nicht nur Gastgeber der 9. UN-Naturschutzkonferenz, sondern auch Schirmherr für IYOR-Deutschland sowie die Ausstellung „Abgetaucht“, beides gehört zum Rahmenprogramm der UN-Konferenz. Zum wissenschaftlichen Beirat von IYOR-Deutschland gehören Forscher sowie Pädagogen, und neben dem Bundesumweltministerium ist auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung vertreten.
Korallenriffe sind also ein notwendiges Forschungsfeld, wenn wir Prozesse der Evolution, der Biodiversität und der Ökologie besser verstehen wollen.
Sie sind aber auch aus der Klima- und Naturschutzforschung nicht wegzudenken, da sie sensible Frühwarnsysteme für Umweltänderungen darstellen. Sie sind ein Paradebeispiel für die Notwendigkeit, geeignete Schutzmaßnahmen gemeinsam anzupacken und mit naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Forschung zu verbinden.
Der gesellschaftspolitische Aspekt beim Schutz der Korallenriffe ist enorm hoch. Häufig wachsen Riffe in den Gewässern besonders armer Länder, so dass Verhaltensänderungen nur in „Doppelpack“-Projekten erreicht werden können, die alternative Erwerbsquellen für die einheimische Bevölkerung aufzeigen.
Das Motto der Ausstellung „Abgetaucht“, die am heutigen 8. April durch die Staatssekretärin Astrid Klug eröffnet wird, ist also durchaus programmatisch zu verstehen. Das Museum lässt die Riffe für alle sichtbar auftauchen und hoffentlich ins Bewusstsein eintauchen. Wir versuchen damit die Besucher zu überzeugen, dass wegschauen kein Ausweg ist. Für die Wissenschaft, die Politik, aber auch für jeden von uns kann es nur heißen: Abtauchen gilt nicht!
Der Autor ist Generaldirektor des Museums für Naturkunde Berlin und Koordinator der deutschen Aktivitäten zum Internationalen Jahr des Riffs 2008.
Reinhold Leinfelder
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