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Bedroht. Vor der Akademie in Budapest steht die Statue des Sprachwissenschaftlers Gábor Szarvas. Foto: Getty Images/iStockphoto
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Zensur in Ungarn: Ungarische Akademie streicht Vorträge aus politischen Gründen

Die Institution steht unter dem Druck der Orbán-Regierung – und streicht Vorträge über Geschlechterverhältnisse und Migration.

Welche Macht von Netzwerken ausgeht, weiß Balázs Vedres genau. Er ist Gründungsdirektor des Zentrums für Netzwerkwissenschaften an der Central European University (CEU) in Budapest. Vedres hat zum Beispiel untersucht, wie kreative Netzwerke den Erfolg von Miles Davis’ Album „Kind of Blue“ beförderten. Seine Vorträge sind auch bei Laien beliebt, die Menschen interessiert, wie Netzwerke wirken. Auch weil in Ungarn die Korruption grassiert und die politischen Strukturen grundlegend verändert.

Vortrag aus politischen Gründen gestrichen

Das bekommt Vedres derzeit selbst zu spüren. Gemeinsam mit der Doktorandin Orsolya Vásárhelyi sollte er beim traditionsreichen „Ungarischen Fest der Wissenschaften“ am 8. November in der Akademie der Wissenschaften einen Vortrag über Geschlechterunterschiede in der Entwicklung von Open-Source-Software halten.

Doch die stellvertretende Generalsekretärin der Akademie, Beáta Mária Barnabás, strich diesen und einen weiteren Vortrag – über das „Recht in den sozialen Medien“ – aus dem Programm. Ihre Begründung: Es gebe „politische Bezüge“.

Das sei ein offener Angriff auf die wissenschaftliche Freiheit, sagt Vedres, und das erste Mal seit dem demokratischen Umbruch von 1989, dass die Akademie Vorträge aus politischen Gründen zensiere.

Der Präsident der Akademie, László Lovász, bestreitet dies: „Die Akademie verbietet und zensiert nicht“, sagt er in einem Interview auf der Akademie-eigenen Homepage mta.hu. Zurückgenommen hat er Barnabás’ Entscheidung aber nicht.

Auch Beiträge über Migration und die Parlamentswahlen dürfen nicht stattfinden

Nach Informationen, die dem unabhängigen Onlineportal Mérce.hu vorliegen, seien zudem zwei ganze Themenblöcke aus dem Festprogramm geflogen, die in einer ersten Fassung der Veranstaltungsplanung noch erschienen waren: In einem wäre es um Migration aus rechts- und gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive gegangen, im anderen um Lehren aus der Parlamentswahl 2018, aus der die regierende Fidesz-KDNP-Koalition des Ministerpräsidenten Viktor Orbán wieder mit einer klaren Zweidrittelmehrheit herausging.

„Man kann darüber diskutieren, ob die beiden Vorträge politische Inhalte gehabt haben“, sagt Lovász. „Vielleicht hätte ich mich selber nicht so entschieden.“ Seine Stellvertreterin kippte die beiden Veranstaltungen offenbar nur aufgrund des Titels. Vedres sagt, er sei zum Inhalt seines Vortrags nicht befragt worden, bevor die Entscheidung fiel.

Akademische Institute sollen stärker staatlich kontrolliert werden

Was könnte den Akademie-Präsidenten dazu bewegt haben, die Zensur des Veranstaltungsprogramms zu decken? Das politische Netzwerk rund um Ministerpräsident Viktor Orbán verbreitet ein Klima der Angst, wenn es um die Forschungsfreiheit geht. Prominentes Opfer ist wie berichtet die ungarisch-amerikanische CEU, deren Existenz seit eineinhalb Jahren bedroht ist. Im August dieses Jahres folgte eine Verordnung gegen die Gender Studies.

Menschen stehen in einer Kette und halten Schilder mit der Aufschrift Veto hoch.
Menschenkette für akademische Freiheit. Der Beschluss der LexCEU führte zu zahlreichen Protesten.
© Vörös Szilárd/imago/PuzzlePix

Und jetzt gerät auch die Akademie unter Druck. Im Sommer wurde entschieden, dass für die Haushaltsplanung 2019 über die Hälfte der staatlichen Zuwendungen an die Akademie von ihren 15 Forschungszentren nicht mehr autonom verwaltet werden dürfen. Das Budget wird künftig vom neu gegründeten Ministerium für Innovation und Technologie mitverwaltet.

Dies gilt vorerst für ein Jahr. Aktuell wird verhandelt, ob das Ministerium neue Vergabekriterien aufstellt oder sich an der bisherigen Praxis der Akademie orientiert. Die Entscheidung darüber soll im November fallen.

Mitten in diesen Verhandlungen steckt Lovász, deshalb sind Vorträge mit „politischen Bezügen“ heikel. Zusätzlich wird diskutiert, ob alle Akademie-Institute einer staatlichen Evaluierung unterzogen werden sollen, wodurch einige wegfallen könnten. Bis zum 1. Dezember soll der Minister für Innovation und Technologie, László Palkovics, der Regierung entsprechende Vorschläge machen.

Eine Idee ist es, die Institute von der Akademie an Universitäten zu verlagern. Diese können durch das – ebenfalls unter Orbán eingeführte – übergeordnete System der Kanzler stärker von der Regierung kontrolliert werden.

Klima der Angst zeigt Wirkung

Die scientific community in Ungarn vermutet, dass die Regierung den Schwerpunkt der Forschungsausgaben auf die angewandte Forschung und innerhalb dieser auf die Ingenieurswissenschaften legen will. Wissenschaftler, die sich mit Grundlagenforschung oder Geisteswissenschaften beschäftigen, befürchten, ihre Finanzierung zu verlieren.

Innovationsminister Palkovics ist ein auf Autotechnologie spezialisierter Ingenieur und selber Mitglied der Wissenschaftsakademie. Die Autoindustrie ist – besonders durch Investitionen deutscher Autofirmen – ein wichtiger und wachsender Wirtschaftszweig in Ungarn.

Vedres und andere Forschende fragen sich, was als Nächstes kommt. Viele fühlen sich an den Pranger gestellt, wenn sie nicht den Erwartungen der Regierung entsprechend forschen. Im Dezember 2017 veröffentlichte das rechte Wochenmagazin „Figyelö“ eine Liste mit 200 Personen aus Politik, Gesellschaft und Forschung, die vom ungarisch-amerikanischen Finanzmilliardär George Soros unterstützt seien und daher regierungsfeindlich.

Selbstzensur zum Schutz der Forschenden

Vásárhelyi und Vedres, die an der von Soros gegründeten Central European University forschen, haben sich im Vorfeld lange Gedanken darüber gemacht, wie sie den Titel ihres Vortrags für den 8. November möglichst neutral formulieren könnten. Sie entschieden sich für „Die Rolle und der Erfolg von Männern und Frauen in der IT auf Basis von Big Data“. Kein Wort von Gender oder Geschlechterungleichheiten.

„Eine Art von Selbstzensur“, sagt Vedres. Aber er habe das vor allem gemacht, um seine Kollegen in den Instituten der Akademie zu schützen. „Sie wissen nicht wohin, sie können nicht einfach nach Wien umziehen“, sagt Vedres und verweist auf Pläne der CEU, die einen Satellitencampus in Wien errichtet.

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