NS-Zeit und Stalinismus: Ums Gedenken streiten
Nationalsozialismus, Stalinismus, Kommunismus: Politische Interessen machen es immer schwieriger, angemessen an die Opfer zu erinnern. Oft wird nicht mehr differenziert, sondern nur das Böse beschworen.
Geschichtspolitik en détail ist es, wenn der Ministerpräsident von Brandenburg einem ehemaligen Gefangenen des KGB, der unschuldig Opfer sowjetischer Willkür war, Aufmerksamkeit und Zuwendung entgegenbringt. Geschichtspolitik ist es auch, wenn der zuständige Opferverband unermüdlich darauf hinweist, dass Regierungschef Platzeck diesen Zeitzeugen gewürdigt hat und dass deshalb die Ziele des Verbandes hehre Ziele sind.
Geschichtspolitik en gros ist das Bestreben, einen neuen internationalen Gedenktag zu installieren, der den 23. August beschwört, das Datum des Hitler-Stalin-Pakts. Der Beweiskraft der Totalitarismustheorie vertrauend, nach der kommunistische und nationalsozialistische Diktatur lediglich die beiden Seiten einer Medaille waren, wird auf die notwendige Differenzierung verzichtet, um das Böse an sich zu beschwören. Die Einebnung der Unterschiede zwischen kommunistischem Terror und nationalsozialistischem Völkermord ist die Folge – beabsichtigt von Interessenten, beklagt von denen, deren Streben nach einem differenzierten Geschichtsbild geht, in dem die Opfer der einen wie die Opfer der anderen ihren richtigen Platz haben.
Das pauschale Gedenken, das der 23. August symbolisiert, nivelliert die Unterschiede zwischen nationalsozialistischer Verfolgung und kommunistischem Terror und marginalisiert damit den Judenmord wie den Genozid an Sinti und Roma. Das bedient Interessen, zu denen Opferkonkurrenzen gehören, ebenso wie das Bedürfnis von Opfergruppen, wahrgenommen und gewürdigt zu werden. Letzteres ist legitim und könnte dem Frieden in der Gesellschaft dienen.
Das Verlangen nach einer bestimmten Wahrnehmung, die den Status in der Opferhierarchie konstituiert, ist aber nicht gegen die historische Realität zu erzwingen. Denn bei aller schändlichen Willkür und Barbarei war es nicht die Intention sowjetischer Politik, Menschen auszurotten, weil sie bestimmten Ethnien oder Religionsgemeinschaften zugehörten. Der Beweis, dass Freiheitsentzug im KGB-Gefängnis das Gleiche war wie Haft im nationalsozialistischen KZ, ist weder zu erbringen noch notwendig. Denn jedes individuelle Leid hat – unabhängig von der politischen Intention des Regimes, das es verschuldet – die gleiche Würde und steht für die existenzielle Katastrophe einzelner Menschen auf gleicher Ebene. Der Beweis, dass Hitler das Gleiche gewollt habe wie Stalin, ist nicht möglich und auch nicht sinnvoll. Umso heftiger wird politisch agiert.
Eine Initiative in den USA lebender Emigranten aus dem Baltikum bewog das Europäische Parlament, den Tag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes, den 23. August, als europaweiten Gedenktag zu widmen. Eine Konferenz in Prag, bei der ostmittel- und osteuropäische Historiker, Zeitzeugen und Politiker zusammenwirkten, trug Früchte. Das Europäische Parlament machte sich die Idee eines gemeinsamen Gedenktages zum „Gewissen Europas und zum Totalitarismus“ zu eigen und fasste mit grandioser Mehrheit eine Resolution dazu. Schweden beging als erste Nation 2008 den neuen Feiertag. 2009 folgten die baltischen Staaten, Bulgarien schloss sich 2010 an, Kroatien, Polen, Ungarn waren 2011 dabei, Slowenien kam 2012 dazu.
Unbeirrt von den Argumenten renommierter Historiker, Holocaustforscher und Gedenkstätten schreitet die Installierung dieses Gedenktages, der ausschließlich politischen Interessen dient, voran. Die Vereinnahmung der Erinnerung an den Judenmord betreibt eine „Platform of European Memory and Conscience“, die ihren Sitz in Prag hat und sich vom Wohlwollen der Politiker einer bestimmten Richtung nährt, nämlich der militanten Antikommunisten mit rückwärtsgewandtem Blick. Die Gruppierung stützt sich ausschließlich auf Organisationen, die Erinnerungspolitik zum kommunistischen Terror treiben. Selbstverständlich ist es legitim und notwendig, sich kommunistischer Gewaltherrschaft zu erinnern und deren Opfer zu würdigen. Es ist aber nicht legitim, auf vereinnahmende Weise Geschichtsklitterung zu treiben.
Die emotionale Sicht der Opfer ist in stetigem Konflikt mit Historikern
Das Haus des Terrors in Ungarn und das Museum des Warschauer Aufstands in Polen sind emblematische Orte eines solchen auf Differenzierung verzichtenden Geschichtsverständnisses, das die Rituale eines kulturellen Gedächtnisses zu schaffen sucht, mit dem schlichte politische Botschaften instrumentalisiert werden. Die Unterschiede stalinistischen und kommunistischen Terrors zur faschistischen Ideologie und der ihr entwachsenen Gewalt sollen aufgehen in einer einzigen Botschaft von menschenfeindlicher Machtausübung im 20. Jahrhundert, die irgendwie die einander entgegengesetzten Ideologien phänomenologisch zusammenführt. Das wird den Opfern beider Systeme nicht gerecht, soll aber – als wäre das notwendig – die einen gegen die anderen aufwerten und schließlich im Nebel des Diktums vom „Jahrhundert der Gewalt“ vereinen.
Die Kontroversen um den historischen und moralischen Ort von Nationalsozialismus und Kommunismus wurden in den 1990er Jahren vor Ort ausgetragen in den Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“, Sachsenhausen und Buchenwald. Beide waren als Konzentrationslager des NS-Regimes errichtet und ab 1945 als sowjetische „Speziallager“ genutzt worden. Die Opfer der Speziallager kämpften um die ihnen jahrzehntelang verweigerte Wahrnehmung ihres Schicksals, traten dabei in Konkurrenz zu den ehemaligen KZ-Gefangenen und beanspruchten die Deutungshoheit über das historische Geschehen.
Der legitime Kampf um die Würdigung ihres Leids wurde nicht selten zum Getümmel und führte zu Verletzungen, wenn die emotionale Sicht der Opfer mit der Kompetenz der Historiker in Konflikt geriet. Was wisse er denn schon von den Zuständen im Lager, musste sich ein renommierter Historiker vorhalten lassen. Er habe ja nicht unter Stalins Knute gelitten, habe nicht wie die Gefangenen unter kommunistischer Ideologie persönlich erfahren, was die Haft im Speziallager bedeutet habe. Mit solchem Pochen auf die allein und ausschließlich erkenntnisstiftende Wirkung der individuellen Erfahrung von Geschichte ist jede historische Wissenschaft von vorneherein erledigt.
So wird immer dann gegen Wissenschaft, gegen das Bemühen rationaler, kritischer und objektiver Betrachtung polemisiert, wenn Deutungsmacht in einer Sache beansprucht wird. In Brandenburg hatte die Auseinandersetzung um die angemessene Beteiligung der Opfer an der Konstituierung eines authentischen Erinnerungsorts ihren vorläufigen Höhepunkt in der Eröffnung der Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße in Potsdam. Im April 2012 wurde unter Beteiligung hochrangiger Politiker nach Auseinandersetzungen in den Medien die Gedenkstätte im Haus des einstigen Sowjet-Gefängnisses eröffnet. Im Namen derer, denen die Einrichtung gewidmet ist, protestierten ehemalige Opfer während der Einweihungszeremonie, nannten das Haus ein KGB-Museum, das den Tätern huldige und die Opfer missachte.
Die Proteste kamen aus unterschiedlicher Richtung, hatten die gleichen Adressaten, nämlich die Gedenkstättenleiterin (die sogar Opfer eines tätlichen Angriffs war und mit dem Tod bedroht wurde) und den Chef der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Sie richteten sich ad personam, wie heutzutage bei Kampagnen üblich. Bauernopfer werden verlangt und Politiker sind immer gefährdet sie zu erbringen, aus naheliegenden Gründen. Das Urteil stand fest: Es würde nicht der Opfer kommunistischer Willkür gedacht, sondern der Täter. Dass dem nicht so ist, lehrt die Ausstellung, in der Biografien der Opfer den Ton angeben.
In ähnlich seltsamer Schlachtordnung und mit merkwürdigen Argumenten wird um ein Buch gekämpft, das den Streit um die Gedenkstätte Leistikowstraße zum Anlass nimmt, grundsätzliche Fragen des Umgangs mit Vergangenheit zu erörtern. Drängende Angebote zur Mitarbeit, moralische Appelle, schmeichelndes Werben um Beachtung im Voraus bestimmen den Tenor. Das Buch erscheint dieser Tage. Sein Anliegen ist es, die notwendige differenzierte Debatte über das Erinnern an zwei Diktaturen anzustoßen.
- Das Buch wird vom Autor dieses Textes herausgegeben und erscheint am 25. Februar: „Ein Kampf um Deutungshoheit. Politik, Opferinteressen und historische Forschung. Die Auseinandersetzungen um die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam“. Metropol-Verlag, 296 Seiten, 19 Euro. Der Autor ist Historiker und ehemaliger Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin.
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