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Reformpädagogik: Über die Grenzen der Aufklärung

Durch den Skandal an der hessischen Odenwaldschule wird über die Reformpädagogik diskutiert. Begünstigt diese Erziehungspraxis sexuellen Missbrauch?

Es ist schier unerträglich, was nach und nach über die Vorgänge an der Reformschule im hessischen Ober-Hambach bekannt wird. Die Details des massenhaften Missbrauchs an der privaten Odenwaldschule schockieren die Öffentlichkeit und haben eine Debatte über die Verantwortung der Reformpädagogik ausgelöst.

Was passierte an der Odenwaldschule?

Bisher haben sich bei dem Internat 33 ehemalige Schülerinnen und Schüler gemeldet, die von Lehrern missbraucht wurden. Der aktuellen Schulleiterin Margarita Kaufmann zufolge waren in 40 Prozent der Fälle Mädchen und junge Frauen die Opfer. Die Vorfälle sollen zwischen 1966 und 1991 stattgefunden haben, bisher geht die Schule von acht Tätern aus. Schüler berichteten, sie seien von ihren Lehrern regelmäßig durch das Streicheln der Genitalien geweckt worden. Sie wurden als „sexuelle Dienstleister“ für ganze Wochenenden eingeteilt, einzelne Pädagogen hätten ihren Gästen Schüler zum sexuellen Missbrauch überlassen.

Im Zentrum der Vorwürfe steht Gerold Becker, der die Schule von 1972 bis 1985 leitete. Nach Kaufmanns Erkenntnissen wurde beispielsweise ein zehnjähriger Schüler von Becker bis zu zwei Mal pro Woche missbraucht. Der Rektor habe den Schüler in den Arm genommen, ihm die Hose ausgezogen und sich dann selbst befriedigt. Ein anderer Schüler schilderte in der „Frankfurter Rundschau“, er sei rund 400 Mal von Becker missbraucht worden.

Die Schriftstellerin Amelie Fried, die auf die Odenwaldschule ging, schilderte am Wochenende in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, wie sich ihr „Familienvater“ (Schüler und Lehrer leben in „Familienverbänden“ zusammen) in den Mädchen-Duschraum drängte. Er nötigte die Mädchen „zu Strip-Poker-Runden in seiner Wohnung“. Freunde hätten Andeutungen über die Vorliebe Beckers „für kleine Jungs gemacht“. Die Lehrer hätten es geschafft, dass die Opfer die Schuld vor allem bei sich selber suchten.

Die Zahl der Opfer an der Schule könnte noch deutlich steigen, Altschüler gehen von bis zu 100 Missbrauchsopfern aus. Über das Wochenende hätten die Direktorin und einige andere Mitarbeiter der Schule erneut permanent Gespräche mit Betroffenen und Ehemaligen geführt, sagte eine Sprecherin dem Tagesspiegel. Im Laufe der Woche wolle die Schule neue Fakten präsentieren.


Wie wurden die Vorfälle aufgearbeitet?

Lange Zeit wurden die Missbrauchsfälle vertuscht – obwohl eine Lehrerin Beckers Nachfolger bereits Mitte der 80er Jahre von den Missbräuchen berichtet haben soll. Nach einem Zeitungsbericht im Jahr 1999 gab die Schule eine Erklärung ab, dass die Vorwürfe offenbar berechtigt seien. Becker habe „auf Rückfragen den Vorwürfen nicht widersprochen“ und trete von allen seinen noch wahrgenommenen Aufgaben zurück. Doch auch danach wurde das Thema wieder unter den Teppich gekehrt. Becker kehrte sogar in den Vorstand anderer Schulen zurück. Die heutige Schulleiterin Kaufmann, die seit 2007 im Amt ist und inzwischen eine Rechtsanwältin als Ansprechpartnerin für die Opfer engagiert hat, spricht von „aktivem Täterschutz“. Becker äußert sich nicht zu den Vorfällen. Das tat dafür Hartmut von Hentig, der Nestor der Reformpädagogik, seit langem Beckers Lebenspartner. Er mache sich keine Vorwürfe, sagte er dem „Spiegel“. „Ich habe ja dauernd und genau hingesehen: voll Neid, wie gut diesem Mann (Becker) gelang, auf Kinder einzugehen.“ Der aktuellen Schulleiterin warf er vor, die „Aussagen der Beschuldiger“ wie Fakten zu behandeln. Sie sei darum „im Begriff, die Aufklärung zu versäumen“.

Dagegen verlangt die grüne Bildungspolitikerin Priska Hinz eine „umfassende Aufklärung“ der Vorwürfe. Gleichzeitig mahnte sie: „Man muss auch präventiv wirken, damit die Reformpädagogik nicht in Verruf gerät.“ Wichtig seien Leitlinien für den Umgang mit Kindern, wie es sie für Kindergärten oder Sportvereine bereits gibt. Vor allem für Internate, wo es naturgemäß Abhängigkeitsverhältnisse gibt, sei dies offenbar notwendig. Eine gute Schule dürfe keine Übergriffe dulden, sagte Hinz dem Tagesspiegel.

Was ist Reformpädagogik?

1901 wurde die Jugendbewegung „Wandervogel“ von Steglitzer Gymnasiasten gegründet. Die Jungen brachen in die Wälder auf, bestiegen Berge und suchten das Abenteuer in der Wildnis – ein Aufbruch aus autoritären Familienstrukturen und staatlichen Schulen. So entstand eine reformpädagogische Bewegung, die auch international in der Gründung der „New Education Fellowship“ seit 1921 ihr Forum fand. Bedeutende Vertreter der Reformpädagogik sind auch im englischsprachigen Raum zu finden: John Dewey mit dem lebensbezogenen Lernen und der Erziehung zur Demokratie oder Alexander Sutherland Neill, der ein Konzept für die „antiautoritäre Erziehung“ entwarf und seine Modellschule Summerhill 1921 in England gründete.

In Deutschland gehören Persönlichkeiten wie Georg Kerschensteiner mit dem Projekt der Arbeitsschule, Peter Petersen mit jahrgangsübergreifendem Unterricht in den Jena-Planschulen, Rudolf Steiner mit den Waldorfschulen und der Gründer der Internatsschule Schloss Salem, Kurt Hahn, zu den Reformpädagogen. Hahn wollte die Seele des Kindes schön, lebendig und fähig machen. Nur so könne der heranwachsende Mensch in die Lage versetzt werden, sich selbst zu einem sittlichen Menschen zu machen. An der von ihm mitbegründeten Internatsschule Salem wurden Jungen nicht nur unterrichtet, sondern auch in Werkstätten geschickt.

Hat die Reformpädagogik ein Problem mit Sexualität?

Durch die Diskussion um die Odenwaldschule sieht Enja Riegel, 1984 bis 2003 Leiterin der reformorientierten Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, den Begriff der Reformpädagogik diskreditiert. Für ihre Schule, die in den 90er Jahren mit Missbrauchsfällen konfrontiert war, sei die an der Odenwaldschule weitergeführte Landschulheimbewegung der 20er Jahre „kein Vorbild“ gewesen. Als Lehrer den Schüler als ganzen Menschen im Blick zu haben, habe überhaupt nichts mit „Nähe zu den Schülern“ zu tun. Kindern und Jugendlichen solle durch neue Unterrichtsformen wie Theaterspielen oder eigenständiges Forschen eine starke und selbstbewusste Entwicklung ermöglicht werden. Lehrer müssten den Schülern dabei „als Erwachsene“ gegenübertreten und stets „Distanz halten“. Es gehe nicht darum, dass ein Lehrer beliebt sei oder gar geliebt werde, sondern um ein klares Konzept von Unterricht – und um gegenseitigen Respekt. Die Missbrauchsfälle dürften nicht dazu dienen, „die Demokratisierung der pädagogischen Praxen in den zurückliegenden gut 30 Jahren infrage zu stellen“, heißt es auch in einer Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.

Für die deutsche Reformpädagogik sei Sexualität ein zentrales Thema gewesen, sagt dagegen der Berliner Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth. Nacktheit und Körperlichkeit standen dafür, bürgerliche Zwänge abzustreifen. Gleichzeitig habe es ein starkes männerbündisches und homoerotisches Element gegeben. Einer der Väter der Bewegung, Gustav Wyneken, musste das von ihm mitbegründete Landerziehungsheim Wickersdorf 1920 verlassen, nachdem ihm „Päderastie“ vorgeworfen worden war. Schon damals habe es unter Reformpädagogen eine Diskussion über „guten Eros und schlechte Sexualität“ gegeben. „Aber damit ist nicht geklärt, wie man Grenzen zieht“, sagt Tenorth, der an der Humboldt-Universität lehrt. Reformpädagogen seien für sexuellen Missbrauch unter Umständen anfälliger als Lehrer, „die aus der Distanz operieren“. Wer als Lehrer emotionale Nähe herstellen wolle, könne Gefahr laufen, Kindern zu nah zu kommen. Zwar könne es keine gefühlsneutrale Schule geben. Pädagogen dürften im Gespräch mit der Klasse oder einzelnen Schülern emotional werden – aber nur mit Gesten und Mimik. Körperliche Zuwendung müsse „völlig verboten sein“, schon Körperkontakt sei höchst prekär. „Pädagogischer Eros“, so sagt Tenorth, beruhe auf einer intellektuellen Nähe. Das bedeute, Schüler anzuerkennen, sie niemals bloßzustellen oder herabzusetzen.


Wie ist die Debatte über die Sexualmoral seit den 80er Jahren verlaufen?

Damals gab es den Paragrafen 175 noch, der sexuelle Handlungen zwischen Männern und Jugendlichen unter 18 Jahren unter Strafe stellte. Mädchen dagegen waren nur bis zu ihrem 16. Lebensjahr vor Sexualität geschützt. Die Schwulenbewegung, die sich im Zuge der sexuellen Befreiung nach 1968 entwickelte, diskutierte zwischen Mitte der 70er und Mitte der 80er Jahre darüber, wie jede Form „abweichender Sexualität“ entkriminalisiert werden könnte. Auch Sexualität mit Kindern sollte kein Tabu sein. Als Anfang der 80er Jahre der Schriftsteller und Linksradikale Peter Schult wegen Unzucht mit Minderjährigen ins Gefängnis kam und 1984 nach einer Flucht schwer krebskrank starb, war eine Märtyrerfigur für die Päderasten gefunden.

Die Debatte fand Mitte der 80er Jahre auch ihren Weg in die grüne Partei. Im Verlauf der Programmdebatte für die Landtagswahl 1985 in Nordrhein-Westfalen beschloss die Landespartei ein „Diskussionspapier“ mit dem Titel „Sexualität und Herrschaft“, in dem die Abschaffung sämtlicher Paragrafen des Sexualstrafrechts gefordert wurde. Es folgte ein öffentlicher Aufruhr: Den Grünen wurde vorgeworfen, sie wollten Sex mit Kindern legalisieren. Die Debatte traf den dortigen Landesvorstand ziemlich unvorbereitet. Doch bei einem Sonderparteitag am 30. März 1985 wurde das Papier schließlich verworfen. Denn nahezu zeitgleich begann in der Frauenbewegung auch die Debatte über sexuellen Missbrauch in Familien. Die Frauen setzten sich schließlich durch, die Päderasten verließen die Grünen und wenig später auch die Schwulenbewegung. Um die Schwulenbewegung mit der Lesbenbewegung zu einer schlagkräftigen Lobby zusammenzuführen, verzichteten die organisierten Schwulen auf die Pädophilen. In Schwulen- und Lesbenbewegung wie bei den Grünen ist seit spätestens Ende der 80er Jahre Konsens, dass jede Sexualethik nur auf der Basis des sexuellen Selbstbestimmungsrechts des Individuums definiert werden darf. Und dieses schließt Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern prinzipiell aus.

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