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Der Plöckenpass (1357 Meter ü. d. Meeresspiegel), ist eine Passstraße in den Karnischen Alpen; sie verbindet das österreichische Kötschach-Mauthen im Gailtal mit dem italienischen Timau im Friaul.
© picture alliance

Aufnahmen aus dem Erdinneren: Tomographie im ganz großen Stil

Geologen erkunden Gebirgsbildungsprozesse in den Alpen mithilfe von Erdbeben am anderen Ende der Welt.

Mit Gebirgen ist es ähnlich wie mit Eisbergen. Nur ein kleiner Teil ist zu sehen. Der weitaus größere liegt verborgen unterhalb der Oberfläche, denn Gebirge haben Wurzeln! 

„Das Verhältnis Gebirge zu Gebirgswurzel ist etwa 1:8 – 1:9. Aber nur, wenn das Gebirge im isostatischen Gleichgewicht ist“, sagt Professor Mark Handy, Geologe und Spezialist für Tektonik an der Freien Universität Berlin. Doch im Gleichgewicht sind die wenigsten. Schon gar nicht die Alpen. Denn mit 30 Millionen Jahren sind sie vergleichsweise junge „Emporkömmlinge“, stehen ziemlich unter Druck und heben sich noch. 

„Bei einer durchschnittlichen Höhe der Berge von 2 000 Metern müssten die Wurzeln etwa 16 bis 20 Kilometer dick sein, also bis in eine Tiefe von etwa 40 bis 45 Kilometern reichen – doch es sind 60!“ 

Was ist da unten eigentlich los? Wie ist die Kräfteverteilung in den gewaltigen Gesteinsmassen? Das wäre gut zu wissen, um das regionale Risiko von Erdbeben und Felsstürzen besser abschätzen zu können.

Während die Oberfläche der Alpen schon seit 200 Jahren erforscht wird, weiß man über die Tiefenbereiche noch recht wenig. Sie zu untersuchen ist ein großes Thema des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsschwerpunktprogramms „Gebirgsbildungsprozesse in vier Dimensionen“ (4D-MB; die Abkürzung steht für Mountain Building in four Dimensions), dessen Koordinator Mark Handy ist. 

„AlpArray“ – ein Netz von seismischen Stationen

Die vierte Dimension ist die Zeit. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Geologie und Geophysik aus 23 deutschen Forschungseinrichtungen nutzen dabei für diverse interdisziplinäre Projekte unter anderem sehr empfindliche Seismometer (Geophone), die feinste Erschütterungen registrieren können.

Das Programm 4D-MB ist der deutsche Beitrag zur europäischen Initiative „AlpArray“. Der Begriff Array (Raster) ist wörtlich zu nehmen, denn mit 610 Messstationen, die über den gesamten Alpen- und Alpenvorraum, einschließlich der Adria und Ligurien, verteilt sind, hat eine europäische Forschungsgemeinschaft ein Netz von seismischen Stationen aufgespannt. 

Die Daten der Stationen, die größtenteils im Abstand von etwa 40 Kilometern über die Böden von Bergen, Tälern und Meer verteilt sind, werden inzwischen von 64 Forschungseinrichtungen in 17 Ländern genutzt.

„,AlpArray’ ist wie ein großes Radioteleskop. Nur ist es nicht in den Weltraum, sondern auf die Erde gerichtet“, erläutert Mark Handy. „Es liefert uns wichtige Informationen über die Beschaffenheit des Erdinneren – und das bis in 600 Kilometer Tiefe und darüber hinaus.“

Die Alpenentstehung begann vor etwa 130 Millionen Jahren

Die Alpen entstanden durch die Konvergenz der Kontinente Afrika und Europa. Der Prozess begann vor etwa 130 Millionen Jahren, als die sogenannte Adriatische Platte – sie bildet heute Teile Italiens und des Meeresbodens unter der Adria – noch Teil von Afrika war. 

Über Jahrmillionen wurde sie wie ein Keil in Südeuropa getrieben. Dabei schoben sich die Plattenränder in- und übereinander und falteten einen 1 200 Kilometer langen und teils bis zu 250 Kilometer breiten Gebirgsbogen auf, der sich heute von Nizza bis Wien erstreckt. 

Ein Crash in Ultrazeitlupe, der nicht beendet ist. Denn noch heute driftet die adriatische Platte pro Jahr ein bis zwei Millimeter gen Norden und lässt den östlichen Teil der Alpen dabei um einige Millimeter wachsen. Die Grenze der Platten liegt direkt am Fuß der Berge in Nordost-Italien. 

„Knautschzone“. Am Fuß der Alpen in Norditalien trifft die adriatische Platte auf den Eurasischen Kontinent.
„Knautschzone“. Am Fuß der Alpen in Norditalien trifft die adriatische Platte auf den Eurasischen Kontinent.
© APA

Entlang dieser „Knautschzone“ ist der Druck in den Tiefen des Gesteins besonders groß – und damit auch die Erdbebengefahr. Dass an der nordöstlichen Ecke Italiens im Friaul und dem Veneto sowie in Slowenien häufiger die Erde bebt, ist also kein Zufall.

Einige elastische Wellen durchlaufen die komplette Erde

Wie funktioniert die seismische Messung von „AlpArray“? „Irgendwo auf der Welt bebt immer gerade die Erde. Ein Teil der elastischen Wellen durchläuft die komplette Erde und wird von den Geophonen an der Oberfläche aufgefangen.“ 

Da das Erdinnere nicht homogen ist, erreichen die Wellen – abhängig von der Beschaffenheit des Untergrundes – die Oberfläche nicht überall zeitgleich. „Wenn sie durch dichtes Material gehen, etwa durch ein Stück Lithosphäre an Plattenrändern, die durch den Zusammenprall nach unten gedrückt wurden, reisen die Wellen schneller. 

Ist etwas warm und flüssig, wie in der Asthenosphäre, dem viskosen Teil des Erdmantels, geht es langsamer“, sagt Mark Handy. Aus den Zeitunterschieden werden später Geschwindigkeitsprofile errechnet. 

Jedes Seismometer sendet unabhängig von den anderen seine Daten parallel an Zentren, unter anderem in Zürich, Grenoble, Rom und an das Geoforschungszentrum in Potsdam. 

Dort werden die Daten aller 610 Messstationen zusammengeführt, analysiert und zu Bildern verarbeitet. So entsteht ein Tomographiebild des Erdinnern unter den Alpen und darüberhinaus. 

Die vertikalen Schnittbilder zeigen den Forscherinnen und Forschern nicht nur die Gebirgswurzeln, sondern gehen viel tiefer.

Die Alpen von Frankreich aus gesehen, mit Fernblick auf das Mittelmeergebiet; gezeigt werden in diesem Bild erstmals in drei Dimensionen die großen Strukturen (blau) unter einem Gebirge. Das Bild und deren Interpretation ist das Ergebnis von seismischen Untersuchungen in dem Projekt der Ruhr-Universität Bochum (Marcel Paffrath, Wolfgang Friedrich) in Zusammenarbeit mit Tektonikern der Freien Universität Berlin (Mark Handy, Emanuel Kästle).
Die Alpen von Frankreich aus gesehen, mit Fernblick auf das Mittelmeergebiet; gezeigt werden in diesem Bild erstmals in drei Dimensionen die großen Strukturen (blau) unter einem Gebirge. Das Bild und deren Interpretation ist das Ergebnis von seismischen Untersuchungen in dem Projekt der Ruhr-Universität Bochum (Marcel Paffrath, Wolfgang Friedrich) in Zusammenarbeit mit Tektonikern der Freien Universität Berlin (Mark Handy, Emanuel Kästle).
© picturedesk.com

Das Bild oben, entstanden in einer Zusammenarbeit von Mark Handy mit Kollegen der Geophysik an der Universität Bochum, zeigt deformierte Teile von alten abtauchenden tektonischen Platten unter den Alpen. Nur sind es keine Platten mehr, sondern Schläuche die unter den Bergen bis in mehrere hundert Kilometer Tiefe reichen. 

Mit einer Genauigkeit von 10 bis 40 Kilometern werden so diese großen Anomalien im Untergrund sichtbar, die durch die Alpenbildung entstanden sind: Die Grenzflächen zwischen Erdlithosphäre und Erdasthenosphäre zeichnen sich klar ab und zeigen eindrucksvoll, dass die unteren Schichten der Erde keineswegs so homogen sind, wie bisherige Modelle es vermuten lassen.

Noch sind die Bilder unscharf. Doch jedes Erdbeben, ob in Indonesien, Japan, Kalifornien oder direkt um die Ecke in Italien, liefert weitere Informationen. Wozu braucht man solche Bilder? 

Jedes Erdbeben liefert weitere Informationen

Zum einen zur genaueren Identifizierung erdbebengefährdeter Regionen. „Bisher beruhten die Prognosen ja hauptsächlich auf der Erfassung bereits stattgefundener Beben. Durch die Schnittbilder werden wir ein viel genaueres Modell der Erdkruste und Erdlithosphäre erstellen können und anhand der Massenverteilung in der Tiefe besonders gefährdete Gebiete ausmachen können“, sagt Mark Handy. 

Von der Massenverteilung der Erde ist aber auch die Genauigkeit der Navigation von Flugzeugen und Satelliten abhängig.

Wie hochsensibel die Seismometer reagieren, zeigte auch die Beobachtung einer Kollegin in Zürich: Eine Zeit lang meldete der Messpunkt auf einer kleinen Adriainsel viele kleine Erschütterungen – und das täglich zwischen 12 und 13 Uhr. 

So regelmäßige Erdstöße konnte es nicht geben. „Sie ging dem nach und fand heraus, dass um diese Urzeit immer eine Biologin mit dem Boot zur Insel kam, um dort Insekten zu zählen“, erzählt Mark Handy. Das Geophon hatte jeden ihrer Schritte registriert.

Catarina Pietschmann

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