Ökosysteme im Anthropozän: Tierische Importe
Der Zoologe Jonathan Jeschke erforscht neue, menschengemachte Ökosysteme. Den Geobiologen Reinhold Leinfelder beschäftigen deren globale Auswirkungen.
Waschbären im Stadtbild sind schon fast normal. Doch als im Sommer 2017 Sumpfkrebse in Scharen durch den Tiergarten spazierten, staunten die Berlinerinnen und Berliner nicht schlecht.
Jonathan Jeschke, Zoologe an der Freien Universität Berlin und Leiter der Arbeitsgruppe „Ökologische Neuartigkeit“ am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei, sieht das kritisch. „Die meisten Krebse in Deutschland sind inzwischen gebietsfremd, und die einheimischen Arten haben unter ihnen stark gelitten.“
Der Marmorkrebs, der von Jeschkes Team in der Berliner Krummen Lanke, einem See im Südwesten der Stadt, nachgewiesen wurde, existierte ursprünglich nicht in der freien Natur, sondern entstand wohl durch Züchtung.
Weil die Art, die nur aus Weibchen besteht, sich durch sogenannte Jungfernzeugung – eingeschlechtliche Fortpflanzung – rasant vermehrt, wurden die Tiere von genervten Aquarienbesitzern in Seen ausgesetzt.
Wie beeinflusst der Mensch das Ökosystem in der Stadt?
Ökologische Neuartigkeit betrifft Ökosysteme im Anthropozän, also im vom Menschen geprägten Zeitalter. Jonathan Jeschke erforscht, wie sich die vielfältigen Eingriffe des Homo sapiens auf die Ökosysteme auswirken. Und das speziell im städtischen Raum.
Gemeinsam mit seinem Team und Kooperationspartnern entwickelt er unter anderem Zukunftsszenarien, in denen zum Beispiel der Klimawandel, Veränderungen des weltweiten Handels mit Tieren und Pflanzen sowie sich ändernde politische Rahmenbedingungen eine zentrale Rolle spielen.
Außerdem arbeitet er an einer großen, frei zugänglichen Datenbank, die eine Art Google Maps der Biodiversitätsforschung werden soll. Einen ersten Einblick bietet hi-knowledge.org.
Zwischen invasiven und arealerweiternden Arten macht Jeschke einen Unterschied. „Spezies, die ihr Verbreitungsgebiet allein aufgrund des Klimawandels ausweiten, würde man nicht als invasiv bezeichnen. Sie waren immer schon in der Lage, sich auszubreiten, konnten sich in manchen Regionen nur nicht etablieren, weil die klimatischen Bedingungen für sie nicht passten.“
Ein Google Maps der Biodiversitätsforschung
Invasiv sei eine Art erst dann, wenn sie durch menschlichen Einfluss in ein neues Gebiet eingeführt wurde und sich dort derart ausbreite, dass sie heimische Arten beeinträchtige.
Wie etwa der Marmorkrebs, der deshalb neben 65 weiteren invasiven Tier- und Pflanzenspezies auf der Liste der „Neobiota“ steht, die in der Europäischen Union nicht mehr gehandelt oder gehalten werden dürfen. Dazu zählen auch Bisam, Waschbär, Amerikanischer Ochsenfrosch und Riesenbeerenklau.
Invasive Arten können sich auch negativ auf die Wirtschaft oder die menschliche Gesundheit auswirken. Die Asiatische Tigermücke ist solch ein Fall: Unabsichtlich von Menschen nach Europa eingeschleppt, profitiert sie vom Klimawandel und breitet sich immer weiter nordwärts aus.
Eine gefährliche Entwicklung, denn die Mücke kann viele Infektionserreger, darunter das Dengue- und Chikungunya-Virus, auf den Menschen übertragen.
Dass der Mensch Ökosysteme verändert, ist nicht neu. Spätestens seit der Entdeckung Amerikas 1492 konnten natürliche Ausbreitungsbarrieren wie die Ozeane mit Schiffen überwunden werden. Zuerst gelangten Samen, später lebende Pflanzen auf diesem Weg nach Europa.
Die Geschichte der 12 000 Dromedare
Auswanderer wiederum wollten in der Neuen Welt auf Heimatliches nicht verzichten, nahmen Singvögel, Hunde und Katzen mit. „Aus den modernen Pferden, die nach Nordamerika verschifft wurden, entwickelten sich später die Mustangs. Da erst begannen die Indianer zu reiten“, sagt Jonathan Jeschke.
In Australien setzten europäische Siedler Kaninchen aus, weil sie nicht nur Kängurus schießen wollten. „Füchse wurden ebenfalls eingeführt. Für die traditionelle Fuchsjagd, aber auch als natürlicher Feind der Kaninchen, weil diese zur Plage wurden. Die Füchse jedoch jagten lieber jungen Kängurus nach, die eine leichtere Beute waren“, sagt Professor Reinhold Leinfelder, Geobiologe und Anthropozän-Forscher an der Freien Universität.
Kurioser ist nur noch die Geschichte der 12 000 Dromedare, die in den 1840er-Jahren als Lasttiere aus Indien auf den heißen, roten Kontinent gebracht wurden.
Als in den 1920er-Jahren Eisenbahnen und Automobile das Transportgeschäft übernahmen, wurden die „Wüstenschiffe“ überflüssig – und im australischen Outback freigelassen. Dort leben heute schätzungsweise 500 000 Dromedare, die von Scharfschützen aus Helikoptern bejagt werden.
Findige Geschäftsleute fangen nun die Nachkommen der ursprünglich „arabischen Kamele“ ein und verschiffen sie zu horrenden Preisen in die Heimat ihrer Urahnen – nach Saudi-Arabien – wo sie ihre Besitzer in Kamelrennen reich machen.
Wo gibt es überhaupt noch ursprüngliche Natur?
Der große Austausch der Arten habe jedoch erst Mitte des 20. Jahrhunderts begonnen, betont Leinfelder. Durch globale Verkehrswege, Verschleppung im Ballastwasser der Schiffe oder auf schwimmendem Plastikmüll sowie den massenhaften Import von exotischen Haustieren und Pflanzen.
Gibt es überhaupt noch ursprüngliche Natur? Ja, sagt Leinfelder: in tropischen Regenwäldern, Savannen, Buschländern, der Tundra, Wüstengebieten und selten auch in Wäldern höherer Breitengrade. „Aber drei Viertel der eisfreien, festen Landoberfläche sind inzwischen keine unberührte Naturlandschaft mehr, sondern aufgrund menschlicher Eingriffe kulturgeprägte Landschaft – also Neo-Natur.“
Ein Zurück zur (Ur-)Natur sei nicht möglich. „Es geht aber auch nicht nur darum, die letzten ursprünglichen Gebiete besser zu schützen. Sondern dafür zu sorgen, dass die Neo-Natur – also landwirtschaftlich genutzte Flächen, Nutzwälder, Stadtgebiete, Flüsse und Seen – ihre Funktion im Ökosystem wieder erfüllen kann“, sagt der Wissenschaftler.
„Etwa ihre Rolle bei der Luftreinigung oder Temperaturregulierung, beim Wasserhaushalt oder der Bodenfruchtbarkeit, als Brutgebiet für Wildtiere und Lebensraum für Insekten.“
Ist Neo-Natur generell schlecht oder auch gut? Weder Jonathan Jeschke noch Reinhold Leinfelder wollen diese Frage pauschal beantworten. Nicht alles, was den Menschen nutzt, muss der Natur schaden. Zudem will oder kann niemand mehr auf Nutzpflanzen wie Reis oder Kartoffeln verzichten.
Auf Reis oder Kartoffeln kann niemand mehr verzichten
Letztere wurden vermutlich im 16. Jahrhundert von den Spaniern aus Südamerika nach Europa gebracht. Und dennoch: In Verbindung mit dem Klimawandel, der Überdüngung landwirtschaftlich genutzter Flächen, der Vermüllung und Überfischung der Meere und der Übernutzung der Regenwälder ist die Artenvielfalt in neuartigen Ökosystemen oft deutlich geringer.
„Zwar hat sich die Natur immer schon verändert – und damit auch die Ökosysteme“, sagt Leinfelder. „Doch nun greift der Mensch so stark ein, dass alle langfristigen Anpassungsstrategien der Natur so ziemlich ausgehebelt werden.“
Der Klimawandel gibt menschengemachten Ökosystemen mächtig Schub. Anbaugebiete für einst südländische Obst- und Gemüsesorten verschieben sich immer weiter nach Norden. 2010 witzelte das Wochenmagazin „Der Spiegel“ noch über den „Chateau Bullerbü“ eines Winzers, dessen Reben in den Schären vor Stockholm gediehen.
Heute gibt es in Schweden schon 40 Weinbaubetriebe und hierzulande Nektarinen „aus der Region“ – dem Alten Land bei Hamburg. Für die Forscher, die immer mehr stark geschädigte Natursysteme wie Korallenriffe und Feuchtgebiete sowie schwindende Regenwälder konstatieren, ist das kein Trost.
Catarina Pietschmann