Gewebezüchtung: Thymus aus der Retorte
Britische Forscher haben aus einfachen Bindegewebszellen das zentrale Organ des Immunsystems nachgezüchtet - mit Hilfe eines einzigen Gens.
Der Thymus ist die Ausbildungsstätte des Körpers für Immunzellen. Hier lernen weiße Blutkörperchen, die T-Lymphozyten, zwischen körpereigenen und fremden Molekülen zu unterscheiden. Ohne Thymus gibt es also kein vollwertiges Immunsystem, so dass Infektionen nicht abgewehrt werden können. Britische Forscher haben es nun geschafft, aus Bindegewebszellen von Mäusen Thymuszellen zu züchten, wie sie im „Fachblatt Nature Cell Biology“ schreiben. Transplantiert in die Nierenkapsel der Tiere bildeten die Zellen einen „kompletten, vollständig organisierten und funktionalen Thymus“. Die Forscher äußern die Hoffnung, künftig auch menschliche Zellen in Thymusgewebe zu verwandeln und zu transplantieren, um Patienten mit defektem Immunsystem zu helfen.
Ganz ohne Stammzellen
Das Besondere an dem Experiment der Forschergruppe um Catherine Clare Blackburn von der Universität Edinburgh ist, dass sie keine Stammzellen verwenden, um die Thymuszellen zu züchten. Solche Experimente waren in der Vergangenheit gescheitert. Blackburn ging einen direkteren Weg, indem sie in embryonalen Bindegewebszellen der Maus ein normalerweise abgeschaltetes Gen namens FOXN1 aktivierte. Dieses Gen ist für die Thymusentwicklung im Embryo unabdingbar, wie der Freiburger Forscher Thomas Boehm schon vor zwanzig Jahren zeigen konnte. Bei Menschen können Gendefekte dazu führen, dass Kinder ohne Thymus geboren werden und dann unter Immunschwäche leiden, wie zum Beispiel dem DiGeorge-Syndrom.
Nach der Pubertät stellt das FOXN1-Gen seine Aktivität im Thymus allmählich ein, was dazu führt, dass weniger Thymuszellen neugebildet werden. Sie werden durch Fettzellen ersetzt. Deshalb ist der Thymus eines der ersten Organe, das „Alterserscheinungen“ zeigt. Diese „Thymus-Involution“ kann dazu führen, dass das Organ bei Infektion mit einem Krankheitserreger nicht mehr genug T-Lymphozyten bereitstellen kann. Die Folge ist eine schlechtere Immunreaktion bei älteren Menschen. Auch nach einer Knochenmarkstransplantation braucht es einen voll funktionsfähigen Thymus, um ein neues Immunsystem bilden zu können. Die Idee der britischen Forscher ist es, dieses Problem mit einem nachgezüchteten, transplantierten Thymus zu lösen.
Alternder Thymus ein „Mythos“
Thomas Boehm ist skeptisch. Es sei ein „Mythos“, dass der Thymus mit zunehmendem Alter seine Funktion verliert. „Im Alter ist eine reduzierte Thymusfunktion in der Regel ausreichend, da der Körper mit T-Lymphozyten gegen die meisten Erkrankungen gesättigt ist“, sagt der Forscher vom Max-Planck-Institut für Immunbiologie. „Wenn der Thymus nicht krank ist, dann ist die Involution umkehrbar.“ Zum anderen hätten die britischen Kollegen nicht gezeigt, wie lange das künstliche Thymusgewebe stabil blieb. Auch Boehms Labor hatte versucht, verschiedene Gewebetypen in Thymuszellen zu verwandeln. Dass es mit Bindegewebe und nur mithilfe eines Gens möglich sein soll, habe er nicht vermutet. Bislang brauchte es immer mehr als ein Gen, um Bindegewebe zum Beispiel in Nervenzellen zu verwandeln. Wichtig zu prüfen sei nun, inwieweit ein so gezüchteter Thymus in der Lage ist, über lange Zeit ausreichend T-Lymphozyten bereitzustellen. Boehm will das Experiment in seinem Labor wiederholen.
Ob Blackburns Team tatsächlich einen klinisch nutzbaren Retorten-Thymus produziert hat, das zu klären brauche es noch „zehn Jahre und Dutzende Millionen Euro“, sagt der Regenerationsbiologe Chris Mason vom University College London.
Sascha Karberg
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