Physik: Tanz der Moleküle
Physiker haben erstmals die Bewegung einzelner Atome in chemischen Reaktionen „gefilmt“. Die Superzeitlupe gelang ihnen mithilfe eines Lasers am Forschungszentrum Desy in Hamburg.
Auf alten Gemälden machen Pferde oft Verrenkungen, die heute unfreiwillig komisch wirken. Damals mussten die Künstler Galopp aus der Fantasie darstellen, denn die Hufe wirbeln zu flott für das menschliche Auge. Erst Foto und Film haben schnelle Vorgänge unserem Sehen zugänglich gemacht. Ein Pferd war auch das erste Untersuchungsobjekt von Eadweard Muybridge. Der Pionier der Hochgeschwindigkeitsfotografie ließ es 1872 an einer Batterie automatischer Kameras vorbeigaloppieren. Er beendete so den uralten Streit darüber, ob beim Galopp alle vier Hufe zugleich den Boden verlassen. Sie tun es, wie wir heute intuitiv wissen. Zeitlupenbilder haben unser Vorstellungsvermögen gegenüber unseren Vorfahren erheblich erweitert.
Zu Muybridges Erben kann man Joachim Ullrich zählen, den Präsidenten der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Zuvor war er Direktor am Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg. Dort feilt seine frühere Abteilung, mit der er noch zusammenarbeitet, an einer wahrlich extremen Zeitlupentechnik. Sie will die Bewegungen von Atomen und Molekülen während chemischer Reaktionen „filmen“. Kürzlich gelang ein Durchbruch.
„Wie solche Reaktionen genau ablaufen, ist unbekannt“, sagt Ullrich, was angesichts der Erfolge der modernen Chemie erstaunlich ist. Bislang fehlte schlicht die Technik, und Theoretiker können den komplexen atomaren Tanz bestenfalls grob berechnen. Für Vielteilchensysteme gibt es nämlich keine exakten mathematischen Lösungen. Zudem tun die winzigen Quantenobjekte nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das, was man von ihnen erwartet. Deshalb dürften echte Zeitlupenaufnahmen von reagierenden Molekülen für manches Aha-Erlebnis sorgen, das an die Lösung des Galoppstreits erinnert. „Bei Reaktionen bewegen sich die Atome eines Moleküls durch eine Energielandschaft mit Bergen und Tälern“, sagt Ullrich. Das Ergebnis hängt davon ab, ob die beteiligten Atome es über einen bestimmten Energieberg ins nächste Tal schaffen. „Diesen Berg, den Chemiker Übergangszustand nennen, wollen wir erstmals sehen“, sagt der Physiker.
Grundsätzlich benötigen Hochgeschwindigkeitsaufnahmen eine Kamera und eine starke Lichtquelle. Denn wer beim Fotografieren flinke Motive mit kurzer Belichtungszeit fassen will, braucht ordentlich Licht. Das „Filmen“ von einzelnen Atomen in Bewegung stellt die Forscher allerdings vor extreme Anforderungen. Sie müssen Vorgänge erfassen, die im millionsten Bruchteil einer milliardstel Sekunde ablaufen. Femtosekunden heißen diese Zeitschnipsel, in denen Licht noch nicht einmal um eine Haaresbreite vorankommt. Nur superstarke Laser können die winzigen Objekte in der ultrakurzen Blitzzeit genügend ausleuchten. Lichtquanten – Photonen – treffen diese Materiezwerge nur mit ausreichender Wahrscheinlichkeit, wenn sie dicht auf sie einprasseln. Eine fliegende Mücke muss auch nur im starken Regen fürchten, nass zu werden.
Auch die besonders „reine“ Qualität von Laserlicht ist unerlässlich, um die erwünschten Quantenprozesse auszulösen und abzutasten. Ein Photonentreffer ist nämlich im Sinne der Quantenmechanik eine Messung, und in der merkwürdigen Mikrowelt verändert jede Messung das gemessene Objekt. Diesen unvermeidbaren Einfluss nutzt die Femtosekunden-Aufnahmetechnik nun geschickt als Vorteil. Sie jagt dazu zwei Laserlichtblitze nacheinander auf das Untersuchungsobjekt. Der erste „Pump“-Lichtpuls kickt die chemische Reaktion an. Nach einer bestimmten Zeit erfasst ein zweiter „Probe“-Lichtpuls den Fortschritt der Reaktion, zerstört sie aber.
Der Knackpunkt liegt darin, dass Quantenobjekte keine Individualität besitzen. Deshalb kann man das Doppelblitzen beliebig oft mit neuen Molekülen der gleichen Sorte wiederholen, weil sie sich völlig identisch präparieren lassen. Durch Variation der Zeitspanne zwischen beiden Lichtpulsen bekommt man so eine Reihe von Einzelbildern – die sich dann zu einem Film zusammenfügen lassen.
Das Pump-Probe-Pulsverfahren mit sichtbarem Laserlicht ist längst Routine. Allerdings konnte die Methode bislang nur sehr begrenzt Informationen liefern. „Sie entspricht dem Blick auf ein Pferderennen durch einen engen Schlitz im Zaun, bei dem man nur sieht, was gerade vor diesem Schlitz ist“, sagt Ullrich. Eine echte Abbildung der Moleküle entspricht dagegen dem unverstellten Blick auf das Rennen. Sie muss berücksichtigen, dass Lichtquanten zugleich Wellen sind. Doch die Wellenlänge von sichtbarem Laserlicht ist grob tausendmal länger als der Durchmesser der winzigen Atome.
Wenn man Atome blitzen will, braucht man also extrem kurzwelliges Licht: hartes Röntgenlicht. Das schafft das nächste Problem, denn erst seit kurzem gibt es zwei funktionierende Röntgenlaser in den USA und in Japan. Diese Laser sind eigentlich riesige Teilchenbeschleuniger. Sie zwingen Elektronen auf einen slalomartigen Schleuderkurs, wobei hartes Röntgenlaserlicht entsteht. Als die Heidelberger vor einigen Jahren mit ihren Experimenten begannen, mussten sie also nach einer anderen Lichtquelle suchen. Sie fanden diese in „Flash“, dem „Freie-Elektronen-Laser“ am Forschungszentrum Desy in Hamburg.
Flash quetscht aus seinen Elektronen extremes UV-Licht heraus. Das ist zwar noch zu langwellig für das direkte Abbilden von Atomen und Molekülen, für eine indirekte Methode aber kurzwellig genug. Die heißt „Explosionsabbildung“ und ist eine Spezialität der Heidelberger. Dabei schießt der erste UV-Pumppuls einem Molekül ein Elektron weg und stößt die chemische Reaktion an. Der nachfolgende UV-Probepuls bläst dann brutal weitere Elektronen aus dem Molekül heraus. Damit fehlt der Quantenkleber, der die Atome zusammenhält. Die entblößten Atomkerne stoßen sich wegen ihrer positiven Ladung heftig voneinander ab. Sie fliegen auseinander wie die Kugeln eines Poolbillards. Ein „Reaktionsmikroskop“ fängt die Trümmer ein und erfasst dabei deren Bewegungsenergien und Einschlagrichtungen. Aus diesen Informationen können die Physiker das Aussehen des Moleküls vor der Explosion rekonstruieren. In tagelangen Versuchsreihen nehmen sie so die Einzelbilder eines „Superzeitlupenfilms“ auf.
Ullrichs Team konnte damit erstmals eine Sorte chemischer Reaktionen im Bild untersuchen, die „grundlegend in unserer Natur ist“, sagt der Physiker. Ohne sie könnten wir diese Zeitungsseite nicht lesen und Pflanzen keine Fotosynthese betreiben: Bestimmte Moleküle reagieren auf Photonentreffer, indem sie ihre Gestalt umwandeln. Das Pigmentmolekül Rhodopsin in unserem Auge wird so zum Schalter, der einen Nervenimpuls ins Gehirn schickt. Chlorophyllmoleküle in Pflanzen lösen damit die Produktion energiespeichernder Kohlenhydrate aus.
Diese Reaktion haben die Forscher direkt beobachtet. Das Acetylen-Molekül sortiert sich dabei von HCCH (H: Wasserstoffatom, C: Kohlenstoffatom) in CCHH um, das Vinyliden. Der Film zeigt, wie dabei ein Wasserstoffatom am Molekül entlangwandert.
Nun nehmen die Heidelberger größere Moleküle in den Fokus. Inzwischen forschen sie auch am amerikanischen Röntgenlaser, und zwar an Chlorophyll. Vor einer Woche veröffentlichte auch ein amerikanisches Konkurrenzteam erste Resultate. Sie wurden allerdings bei sehr tiefen Temperaturen aufgenommen und sind deshalb noch nicht sehr aussagekräftig. Doch vielleicht können wir bald Atom für Atom in Superzeitlupe sehen, wie Pflanzen Fotosynthese betreiben.
Roland Wengenmayr