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Faszination Kunst. Die Lichtskulpturen von Anthony McCall im Hamburger Bahnhof lassen Raum für die eigene Fantasie. Ob die Besucher sie als „gute Kunst“ empfinden, hängt davon ab, ob sie über sie staunen können.
© picture alliance / dpa

Kunst im Kopf: Staunen Sie!

Emotionen beeinflussen, wie wir Kunst wahrnehmen, sagt der Psychologe Jesse Prinz. Besonders wichtig sei das Staunen.

Es dauert eine Weile, bis sich die Augen an die Dunkelheit in der Haupthalle des Hamburger Bahnhofes gewöhnen. Erst dann beginnt man, Details der raumhohen Lichtskulpturen des britischen Künstlers Anthony McCall wahrzunehmen. Sie zeichnen Linien auf den Boden, die sich langsam verändern. Flirrender Rauch lässt die Lichtkegel fast gegenständlich wirken – wie ein Zelt aus feinem, durchsichtigem Stoff. Unwillkürlich tritt man hinein, lässt die Lichtlinien über seine Arme fahren, blickt nach oben. Manche Besucher, egal ob Kind oder Erwachsener, legen sich in die Lichtzelte und bleiben eine Weile dort. Jeder fühlt sich an etwas anderes erinnert: ein altes, verrauchtes Kino, religiöse Erleuchtung, pure Geometrie. Jesse Prinz lächelt: „Dieses Staunen ist es, durch das wir Kunst unwillkürlich als gut oder schlecht einstufen.“

Prinz ist Philosophieprofessor und experimenteller Psychologe an der City University of New York (CUNY). Als Anhänger des britischen Empirismus reicht es ihm jedoch nicht, nur gelehrte Thesen über Gehirn und Geist des Menschen aufzustellen. Er will sie selbst überprüfen. Das Sehen beispielsweise erforschen Neurowissenschaftler seit Jahrzehnten bis ins kleinste Detail – vom Auge über den Sehnerv und die verschiedenen Relaisstationen im Gehirn bis zum visuellen Kortex. Erst wenn das Bild im Kopf schon fertig ist, kommt eine emotionale Bewertung hinzu, so lautet eine weitverbreitete Annahme. Prinz findet das zu mechanistisch: „Gefühle sind nicht nur die Reaktion auf ein Bild. Sie beeinflussen bereits, was wir wie wahrnehmen.“

Etliche Hirnregionen, die für emotionale Bewertungen zuständig sind, sind direkt mit dem visuellen Kortex verbunden – und das keineswegs als Einbahnstraße. Außerdem gebe es Hinweise darauf, dass Depressive Schwarz-Weiß-Kontraste weniger gut sehen und die Welt dadurch für sie grau wirken kann. „Wer weiß, vielleicht ist Neid auch wirklich gelb und die Hoffnung grün“, spekuliert Prinz. Die tradierte Farbsymbolik könnte einen biologischen Hintergrund haben. Noch werde das zu wenig untersucht.

Für Kunst interessiert sich Prinz seit der Schulzeit. Er spielte mit dem Gedanken, sich selbst an einer Kunsthochschule zu bewerben, beschloss dann aber, dass man die Miete besser als Akademiker bezahlen kann. Künstler könne er auch in seiner Freizeit sein, dachte er. „Auf die Freizeit warte ich noch“, sagt Prinz. „Also habe ich mir jetzt die Kunst in meinen Beruf geholt.“

Gemeinsam mit seinen Kollegen von der CUNY will er herausfinden, wie Menschen Kunst bewerten und inwiefern unwillkürliche körperliche Reaktionen dabei eine Rolle spielen. So ließ er Studenten im Labor Reproduktionen von Kunstwerken begutachten und fragte, ob sie wohl von einem Meister stammen oder von einem unbedeutenden Künstler.

„Sobald wir die Bilder relativ weit nach oben gehängt haben, wurden sie positiver bewertet. Schließlich musste man buchstäblich zu ihnen aufschauen. Ähnliches gilt übrigens auch für große Leinwände“, sagt er und deutet auf ein riesiges Bild von Joseph Beuys, auf dem das Schnittmuster für einen Herrenanzug zu sehen ist. Was so groß ist, muss bedeutend sein, sagt uns unser Gehirn. „Bildbände und digitale Darstellungen können solche körperlichen Reaktionen nicht auslösen. Schon deshalb bleiben sie hinter dem Original zurück.“

Auch in welcher Stimmung ein Besucher ins Museum geht, könnte entscheidend dafür sein, ob man sich auf die dort ausgestellte Kunst einlassen kann oder nicht, meint Prinz. Er und seine Kollegen zeigten 85 Probanden für jeweils 30 Sekunden abstrakte Bilder des Künstlers El Lissitzky. Vorher mussten sich einige Probanden einen Ausschnitt aus einem Horrorfilm oder aus einem glücklich machenden Film anschauen. Andere Versuchsteilnehmer wurden vor der Kunst zu sportlicher Aktivität genötigt. Eine dritte Gruppe durfte sich die vier Bilder ohne jegliches Vorspiel ansehen.

Ihr Ergebnis war eindeutig: Nur wer vorher durch den kurzen Horrorfilm Angst bekommen hatte, bewertete die Bilder anschließend als „inspirierend“, „stimulierend“ oder „beeindruckend“. „Angst sorgt dafür, dass wir aufmerksam sind und Details wahrnehmen“, sagt Prinz. In grauer Vorzeit war dieses Gefühl besonders wichtig. Es half den Menschen, gefährliche Situationen zu überleben. Heute hallt dieses Erbe in völlig harmlosen Situationen nach.

Dass „gute Kunst“ oft nichts mit Gefälligkeit zu tun hat, zeige schon ein kurzer Blick in die Kunstgeschichte: Picassos Guernica kann seinen Betrachter einschüchtern, Goyas Bilder verursachen mitunter Ekel, Beuys’ Blöcke von tierischem Fett können verstören. „Es ist eine Gratwanderung“, sagt Prinz. „Ein Kunstwerk darf aufwühlen. Aber gleichzeitig sollte es nicht so krass wirken, dass wir uns entsetzt abwenden und gehen.“

Die zentrale Emotion für den Kunstgenuss ist für ihn ohnehin das Staunen – sei es nun über eine Miniatur, über ein Farbenspiel oder weil sich ein Werk nicht einfach in eine Schublade stecken lässt und unterschiedlichste Interpretationen zulässt. „Wenn man offen ist, weckt gerade das die Neugier“, sagt er.

McCalls Lichtskulpturen seien ein gutes Beispiel. Wann immer man in die für die Sonderausstellung abgedunkelte Halle zurückkehrt, sieht man dieselben Szenen: Menschen, die sich am Rande des Geschehens niedergelassen haben und die Symmetrie von Ferne auf sich wirken lassen; Kinder, die die Lichthüllen mit den Händen zu greifen versuchen; Pärchen, die sich in einem der Kegel niedergelassen haben und gemeinsam ins Licht schauen.

Über die Zusammenhänge zwischen Kunst, Emotion und Wahrnehmung hält Jesse Prinz heute von 18.30 Uhr bis 20.00 Uhr einen Vortrag (englisch). Ort: Berlin School of Mind and Brain, Luisenstraße 56, Festsaal, 10117 Berlin. Eine Anmeldung ist nicht nötig. Die Ausstellung „Five Minutes of pure Sculpture“ ist noch bis zum 12. August im Hamburger Bahnhof zu sehen.

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