Biodiversitätsforschung: Stadt, Land, BIBS?
Wissenschaftler verschiedener Disziplinen gehen gemeinsam neue Wege, um urbane und ländliche Ökosysteme zu erforschen.
Biodiversitätsforschung ist ein weites Feld: Manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betrachten die Vielfalt des Lebens unter Wasser - in Seen, Pfützen, an Riffen oder auf dem Meeresgrund. Andere erforschen Organismen, die an Land leben. Unter ihnen sind etliche auf Oberirdisches spezialisiert - etwa auf Blütenpflanzen, Bäume, Raubtiere, Vögel oder Käfer. Andere hingegen interessiert nur, was sich im Erdreich tut. Wo die einen ausschließlich im Freiland arbeiten, experimentieren andere im Labor. Und während sich die einen auf reine Beobachtung beschränken, schraubt ein anderer an zig Parametern und wartet gespannt, was passiert.
Professor Matthias Rillig, Pflanzenökologe an der Freien Universität Berlin, sieht hier Verbesserungsbedarf. „Wir gehen alle zu unterschiedlichen Konferenzen und lesen zum Teil andere Fachzeitschriften. Ein Austausch zwischen den fein fragmentierten Fachgebieten findet kaum statt.“ Er bedauert das, denn es finde sich überraschend viel Verbindendes, wenn man mit den Kollegen erst einmal ins Gespräch komme.
Hier setzt „BIBS“ an, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Verbund-Projekt Bridging in Biodiversity Science. Es soll Brücken schlagen zwischen den Disziplinen, und das auf unkonventionelle Weise.
"BIBS“ stellt nicht eine wissenschaftliche Frage in den Vordergrund, sondern schnürt vier Arbeitspakete, die im weitesten Sinne die verschiedenen Lebensräume umfassen. Dadurch werden scheinbare Gegensätze miteinander verbunden, die in der Ökologie meist ohnehin zusammengehören: Blätter und Blütenstängel einer Pflanze und deren Wurzeln beispielsweise gehören bei „BIBS“ in dasselbe Paket: „Oberirdische - unterirdische Systeme“. Ein brandheißes Thema in diesem Paket ist Trockenstress. Wie reagieren Mikroorganismen, die im Wurzelbereich von Pflanzen sitzen, auf Wassermangel? Gibt es eine koordinierte Reaktion der Pflanze von „oben“ und „unten“?
Eine Verknüpfung von Stadt und Land
Ein anderes Themenpaket umfasst „Aquatische - terrestrische Systeme“. Auf Brandenburgs Äckern, aber auch in Berlin, finden sich Sölle - kleine Tümpel. Diese auch Toteislöcher genannten Relikte der letzten Eiszeit sind meist von einem Rest natürlicher Vegetation umgeben: von Büschen, Bäumen und anderen Pflanzen. „Hier landen Vögel, diverse Tierarten leben dort im Wasser und an Land. Samen breiten sich aus und Erde von den Äckern wird hineingeweht“, erläutert Matthias Rillig. „Uns interessieren die Stoffflüsse und die Bewegungsmuster der Organismen.“
Das Themenpaket „Urban - ländlich“ verknüpft die Stadt und angrenzende ländliche Gebiete sowie die dazwischenliegenden Übergangsbereiche. Was hüpft, krabbelt, kriecht und wächst dort? Welche Prozesse spielen sich auf den Flächen ab? Verändert sich im urbanen Raum mit der Zeit die Morphologie von Pflanzen oder Tieren? Während die einen Käfer sammeln, zählen andere Forscherinnen und Forscher die Pflanzenarten oder graben im Boden nach Würmern und Mikroben.
„Naturnah - neue Ökosysteme“ heißt das vierte Paket. Dabei geht es insbesondere um neuartige Stressfaktoren und darum, wie diese auf Ökosysteme wirken: zum Beispiel sogenannte invasive Arten (wie etwa der Marmorkrebs), künstliches Licht oder Mikroplastik. „Wir betrachten dabei viele unterschiedliche Organismengruppen, denken aber auch über mögliche Einflüsse der Stressoren auf die Gesundheit des Menschen nach“, erklärt der Biologe.
Zu Land und zu Wasser
Die Forschungsplattform von „BIBS“ - und das ist ebenfalls neu - sind sogenannte ScapeLabs. Diese Landschaftslabore gibt es in verschiedener Ausführung. Die City Scape Labs bestehen zum Beispiel aus 50 kleinen Graslandflächen, und diese liegen - entlang eines Urbanitätsgradienten - also im räumlichen Verlauf von innerstädtischen zu naturnahen Regionen - verteilt von der Mitte Berlins bis hinaus in die Agrarlandschaft Brandenburgs. Das Scape-Lab-Konzept wurde eigens für das Projekt entwickelt. Die Flächen wurden dafür jedoch nicht extra angelegt, sondern bereits vorhandene für „BIBS“ ausgewählt und instrumentiert. Auch Seelabore – Lake ScapeLabs genannt – die schon eine Weile existieren, wie etwa am Müggelsee, gehören dazu.
„Quer durch unsere Fachgebiete entwickeln wir Projekte und arbeiten dann auf diesen Flächen in unterschiedlichen Konstellationen zusammen“, erklärt Matthias Rillig. Manche Graslandflächen sind mit Wetterstationen bestückt. „Dort sammeln wir Klimadaten. Denn einer der Faktoren, die sich entlang des Urbanitätsgradienten verändern, ist die Temperatur - aufgrund des Wärmeinseleffektes in Städten.“
Citizen-Science-Projekte, also Forschungsvorhaben mit Bürgerbeteiligung - sind ebenso in „BIBS“ integriert wie zunächst skurril Anmutendes: etwa Mini-Ökosysteme um Blumenvasen auf Friedhöfen. Damit in jedem Scape Lab tatsächlich das ganze Forschungsspektrum aller vier Pakete bearbeitet werden kann, mussten die Forscher etwas „tricksen“. „In der Stadt gibt es nicht so viele Sölle wie im Umland. Also haben die Kolleginnen und Kollegen in den städtischen Graslandflächen kleine künstliche Wasserflächen angelegt, indem sie Eimer im Boden versenkten.“ Weitere Landschaftslabore sollen noch dazu kommen, zum Beispiel auf begrünten Dächern, die in Zeiten das Klimawandels en vogue sind.
Interdisziplinäre Biodiversitätsforschung
Das Projekt „BIBS“ vereint unter anderem Disziplinen wie Amphibienforschung, Bioinformatik, Erdsystemanalytik, Evolutionsbiologie, Genetik, Gewässerökologie, Insektenforschung und Mikrobiologie mit Paläozoologie, Pflanzenökologie, Umweltanalytik, Wildtierbiologie. Zusammengebracht hat sie 2016 das Berlin-Brandenburgische Institut für Biodiversitätsforschung (BBIB). Unter dem Dach dieser virtuellen Institution firmieren 36 Forschungsgruppen aus neun Institutionen – von den drei großen Berliner Universitäten und der Universität Potsdam bis zu fünf Leibniz-Instituten der Region inklusive des Berliner Museums für Naturkunde und des Leibniz Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei.
„BIBS“, ein zentrales Projekt des BBIB, läuft bereits seit drei Jahren und wird nun für zwei weitere Jahre vom BMBF gefördert. Die Gesamtfördersumme beträgt rund zehn Millionen Euro. Und wie klappt die Kooperation über die Grenzen von Disziplinen hinweg? „Hervorragend!“, sagt Bodenforscher Matthias Rillig, der zugleich Direktor des BBIB ist. Durch das Gespräch mit einem Gewässerökologen habe er erfahren, dass sein eigener Forschungsschwerpunkt „Bodenaggregation“ – die Bildung von Erdkrümeln – unter Wasser ein Pendant hat: „Ohne BBIB hätte ich den Kollegen vom Leibniz-Institut am Müggelsee vermutlich nie kennengelernt“, sagt er.
Bei regelmäßigen Treffen werden Methoden und Forschungsansätze diskutiert, Einzelprojekte vorgestellt und gemeinsame Vorhaben - etwa zum Thema Mikroplastik oder Trockenstress - auf den Weg gebracht. „‚BIBS' gibt uns große Freiräume und die Muße, über bestimmte Themen auch mal länger nachzudenken. Die Grenzen zwischen den Disziplinen, was die Bearbeitung der Arbeitspakete anbelangt, lösen sich jetzt in der zweiten Projektphase fast vollständig auf“, sagt Matthias Rillig.
Die Landschaftslabore sollen zur Dauereinrichtung werden. Denn ihren vollen Charme werden sie vor allem in Langzeitstudien entwickeln: An ihnen lässt sich in Echtzeit verfolgen, wie klimabedingte Verschiebungen in der Artenvielfalt und in Ökosystemen tatsächlich ablaufen - in der Großstadt wie auf dem Land.
Catarina Pietschmann