Modelle gegen die Welle: So schnell könnten Schnelltests die Infektionszahlen senken
Einer der verlässlichsten Covid-Modellierer hält es für möglich, die Neuinfektionen durch B.1.1.7 in den Griff zu bekommen - großen Fleiß vorausgesetzt.
Ein schneller Scan des Handy-Displays und schon öffnet sich der lang ersehnte Zugang zum Kino, ins Konzert, in eine Handball-Halle oder auch in einen Laden, der anderes als Lebensmittel, Medikamente und andere Dinge des täglichen Bedarfs anbietet. Sieht so ein wichtiger Schritt auf dem langen Weg aus dem Covid-19-Lockdown aus?
Der Virologe Bernhard Fleckenstein von der Universität Erlangen kann sich das sehr gut vorstellen: „Eine App auf dem Handy zeigt das negative Ergebnis eines Covid-19-Antigen-Tests vom gleichen Tag und ermöglich damit den Eintritt“, erklärt der Gründungspräsident der Gesellschaft für Virologie einen gangbaren Weg aus dem Lockdown.
Millionen Computerbürger
Selbst die von der in Großbritannien zuerst nachgewiesenen Variante B.1.1.7 getragene, bereits anrollende dritte Welle der Pandemie könne man so brechen, sagt Kai Nagel von der Technischen Universität Berlin: „Breit eingesetzt sollten Schnelltests nach unseren Modellrechnungen die Infektionszahlen sehr stark reduzieren.“
Der Mobilitätsforscher und sein Team simulieren im Computer bereits seit Beginn der Pandemie das Leben von 1,5 Millionen Menschen in Berlin. Wie in der echten Stadt eilen diese Modell-Figuren zu Bushaltestellen und U-Bahn-Stationen, sind mit dem Fahrrad oder im Auto zur Arbeit oder zu einem Konzert unterwegs, sitzen allein oder mit anderen zuhause und im Klassenzimmer. Bringen die Forscher in diese Computerwelt etwa eine Modell-Person, die mit der „britischen“ Variante infiziert ist, können sie beobachten, wie der virtuelle Erreger sich ausbreitet und ob er die bisherigen Virus-Typen verdrängt.
„Diese B.1.1.7-Variante ist erheblich infektiöser und sollte sich daher durchsetzen“, sagt Bernhard Fleckenstein. „Wir stecken daher in einer gefährlichen Situation.“ Die Modellrechnungen von Kai Nagel sagen in etwa dasselbe. In diesen Simulationen lässt das Team um den TUB-Forscher infizierte Modell-Figuren das Virus mit einer angenommenen Wahrscheinlichkeit auf andere Personen übertragen und passt diese Annahme so lange an die Covid-19-Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) an, bis die Computersimulation der jüngsten Vergangenheit nahezu die gleichen Infektions- und Krankenhauszahlen liefert wie sie das RKI tatsächlich meldet. Ende Februar 2021 zeigten die Modelle dann, dass bereits Anfang März die Infektionen mit der B.1.1.7-Variante mit denen der herkömmlichen Viren erst gleichziehen und sie bald danach überholen dürfte. Und prompt meldete das RKI, in der letzten Februar-Woche habe die britische Variante mit weiterhin kräftig steigender Tendenz einen Anteil von 46 Prozent am Infektionsgeschehen gehabt
Die dritte Welle - von Tsunami bis Plätschern ist alles möglich
Sind damit Lockerungen komplett widersinnig? Was würde passieren, wenn die Schulen weiter öffnen? Oder sind doch neben den Friseuren sogar weitere Dienstleistungen möglich? Simuliert Kai Nagel solche leichten Öffnungen, zeigen die Infektionskurven bereits Mitte März steil nach oben. Die dritte Welle käme dann mit voller Wucht und würde sowohl bei den Infizierten wie auch bei den in Krankenhäuser eingelieferten Patienten deutlich höhere Werte als die zweite Welle im Dezember 2020 erreichen.
Selbst wenn die Forscher die bis vor kurzem geltenden Maßnahmen mit geschlossenen Friseuren und Gartenmärkten ohne jegliche Lockerung in ihren Simulationen beibehalten, entwickelt sich eine kräftige dritte Welle. Allerdings dürften mit steigenden Temperaturen ab April die Menschen immer mehr Aktivitäten ins Freie verlegen. Dadurch würde die Übertragungswahrscheinlichkeit sinken. In diesem Fall blieben nach den Simulationen die Infektionszahlen der dritten Welle ein wenig unter den Werten von Dezember 2020.
Dazu kommt: Da im Frühjahr viele der besonders für Covid-19 empfindlichen Menschen bereits geimpft sein dürften, sollte die Zahl der Patienten in den Kliniken laut Modell deutlich niedriger als in der winterlichen zweiten Welle liegen.
In den Modellen flacht die dritte Welle noch mehr ab, wenn die Maßnahmen weiter verschärft, gegenseitige Besuche vollständig verboten, sowie die Arbeitswelt weitgehend lahmgelegt würden. Doch „solche sehr harten Einschränkungen würden eine relativ zu ihrer Härte geringe zusätzliche Wirkung haben“, erklärt Kai Nagel. Eine Option, das zeigen auch die Ergebnisse des Treffens von Ministerpräsidenten und Bundesregierung am Mittwoch, sind Verschärfungen derzeit ohnehin nicht. Viele Menschen lechzen nach Lockerungen, Schulen sollten nicht wieder schließen, Kultur, Gastronomie, Tourismus und Einzelhandel brauchen Perspektiven.
Des Virus Werk und unser Beitrag
Die gibt es aber, sagen die Modellrechnungen, auch mit der hochinfektiösen B.1.1.7. Man muss dafür einigermaßen sicher wissen, welchen Beitrag die verschiedenen Bereiche unseres Lebens und die jeweils getroffenen Maßnahmen zum Eindämmen der Pandemie auf das Infektionsgeschehen haben.
Die Entwicklung einer Epidemie bestimmen Forschende mit der Reproduktionszahl R. Liegt sie bei eins, stecken hundert Infizierte im Durchschnitt weitere hundert Personen an und die Epidemie stagniert. Liegt der R-Wert darüber, steigt die Zahl der Infektionen immer schneller an, bis das Geschehen außer Kontrolle gerät.
„Allein die privaten Haushalte tragen nach unseren Simulationen bei der britischen Variante bereits 0,5 ‚Re-Infektionspunkte' zum R-Wert bei“, sagt Nagel. Das bedeutet, dass bei einem R von 1 etwa die Hälfte aller Infektionen dort geschieht – woran fast nichts zu ändern ist. Umso wichtiger werden die anderen, besser beinflussbaren Faktoren, die zusammen sonst das R weit jenseits der 2 bringen.
Ein großer Brocken ist dabei die Arbeitswelt, die bei der britischen Variante ohne Schutzmaßnahmen weitere 0,3 Re-Infektionspunkte zum R-Wert beiträgt. Arbeiten die Menschen dagegen so viel wie möglich im Homeoffice oder in Einzelbüros – und tragen sie in Bereichen, wo solche Einzel-Jobs nicht möglich sind, konsequent FFP-2-Schutzmasken, sinkt dieser Beitrag drastisch auf 0,03 Punkte. „In Mehr-Personen-Büros sollten also ähnlich wie bereits im Supermarkt FFP2-Masken getragen werden“, meint Nagel. Allerdings gehen die Modelle von einer auch in der Praxis guten Schutzwirkung der Masken aus – was eine jüngere Untersuchung der Stiftung Warentest nicht unbedingt bestätigt.
Die Maske muss sitzen, die Tests muss es geben
Bleiben die Schnelltests. Werden damit alle Beschäftigten vor Arbeitsbeginn getestet, sollten nur noch 0,02 Re-Infektionspunkte zum R-Wert dazu kommen. Dafür wären allein in Berlin jede Woche 6,3 Millionen Schnelltests notwendig.
Laufen Kitas, Schulen und Universitäten ähnlich wie vor den Zeiten der Pandemie, trägt der Bildungsbereich nach den Modellen 0,3 Punkte zum R-Wert bei. Tragen Schüler und Lehrer während des Unterrichts FFP2-Masken und wird der Wechselunterricht konsequent durchgezogen, sinkt dieser Wert auf unter 0,01 Punkte. Ähnlich gut wirkt ein Schnelltest für alle Schüler und Lehrer vor jedem Unterrichtstag. Dafür müsste Berlin jede Woche 2,4 Millionen Tests bereitstellen.
Der Einzelhandel trägt ohne Schutzvorgaben 0,1 Reinfektionspunkte bei. Gute und richtig getragene FFP2-Masken senken diesen Wert auf unter 0,01. „Besonders problematisch ist die Gastronomie in Innenräumen, weil beim Essen und Trinken ja keine Maske getragen werden kann und dort oft auch noch relativ laut gesprochen wird“, erklärt Nagel. Normalerweise ist deshalb der Beitrag von Restaurants, Bistros, Bars und Co. ziemlich hoch. Doch selbst wenn nur halb so viele Gäste wie in Vor-Pandemie-Zeiten bewirtet werden, sinkt er immerhin auf 0,13. Erheblich besser sieht es für die Gastronomie dagegen im Außenbereich aus, die mit 0,05 Punkten zum R-Wert beiträgt.
Feiern bis der Arzt kommen muss
Grassiert wie jetzt eine sehr infektiöse Variante und fahren ähnlich viele wie vor der Pandemie Bus und Bahn, trägt auch der öffentliche Verkehr etwa 0,2 Punkte bei. Liegt die Auslastung dagegen so niedrig wie derzeit und tragen alle Passagiere FFP2-Masken, sinkt der Wert auf 0,02. Auch Museen und Streicherkonzerte tragen weniger als 0,01 Punkte bei, wenn die Besucher FFP2-Masken tragen. Unklar ist dagegen die Situation im Theater und bei Chor-Aufführungen oder Blasorchestern – auch mit ausgedünnter Teilnehmerzahl.
Ein weiterer Problembereich aus Sicht des Infektionsschutzes ist der private Bereich: Allein Feiern in Innenräumen ohne Schutzmaßnahmen können nach den Simulationen 0,25 Punkte zum R-Wert beitragen, ähnlich der Besuch von Freunden und Verwandten außerhalb des eigenen Haushalts und sonstige private Treffen. Tragen dagegen auch bei Besuchen in privaten Wohnungen alle Menschen FFP2-Masken, sinkt dieser Beitrag auf 0,03. Schnelltests vor jedem Treffen senken diesen Wert sogar auf 0,01.
Maskierte in der Wohnung
„Genau so halten wir es bereits seit einigen Wochen“, erklärt Bernhard Fleckenstein, der als Arzt bereits bisher solche Schnelltests in der Apotheke kaufen kann. Bei Familienbesuchen werden alle vorab getestet und können dann bei negativem Ergebnis ohne Sorgen zusammen kommen. „Andere Besucher kommen bei uns nur mit einer FFP2-Maske über die Türschwelle.“ Nach diesem – sicher idealisierten und kaum komplett umsetzbaren – Vorbild könnte in Zukunft jeder Einzelne zuhause und bei Besuchen die Menschen, mit denen man sich trifft, und natürlich auch sich selbst schützen.
Anders ist die Situation dagegen im öffentlichen Bereich: „Da brauchen wir ein System mit klaren Regeln, die von der Politik festgelegt werden müssen“, meint Fleckenstein. So könnten Schnelltests in Apotheken und privaten Unternehmen kostenfrei oder für einen Eigenbeitrag ähnlich wie die Rezeptgebühr bei Kassenpatienten gemacht werden. Eine Bescheinigung via App oder Ausdruck könnte dann ähnlich wie zum Beispiel ein Impfnachweis Eintritt in Bereiche ermöglichen, die bisher im Lockdown unzugänglich waren. Wenn es funktioniert, könnte so Schritt für Schritt könnte die Rückkehr zur Normalität beginnen.