Talkshows: Schweigen ist Silber
„Junge Leute haben am Freitagabend etwas Besseres zu tun“ Talkshows, heißt es, gucken nur Einsame. Und junge Gesichter wie Charlotte Roche funktionieren nicht. Verspielt das TV-Format seine Zukunft?
Letzte Woche Freitag im „Kölner Treff“, der WDR-Talkshow. Moderatorin Bettina Böttinger möchte von der niederländischen Schauspielerin Maruschka Detmers wissen, was sie von ihrem Image als „Sexbombe“ hält. Ob sie denn wisse und sagen könne, wer sie sei. Schweigen. Die Schauspielerin, den deutschen Fernsehzuschauern vor allem durch ihre Rolle im Dreiteiler „Via Mala“ bekannt, schaut Böttinger entgeistert an. „Ob ich weiß, wer ich bin?“ Und dann noch mal: „Wer ich wirklich bin? Das wollen Sie wissen?“ Und das solle sie dann in der Show sagen? Ungläubiges Staunen bei Detmers, ungläubiges Staunen auch bei der sonst so souveränen Moderatorin. Die richtige Frage, die falsche Antwort? Die falsche Frage, die richtige Antwort?
Richtig ist: Kaum ein Genre im Fernsehen ist immer noch so beliebt wie die Talkshow, ganz abgesehen davon, dass kaum ein anderes Fernseh-Genre diese zentrale Funktion hat, Themen zu setzen, vor allem in Polit-Talks. Die Menschen lieben sie, die Menschen hassen sie, und wenn sich die Menschen über Talkshows am nächsten Tag aufregen, dann haben sie diese Talks immer noch gesehen. Und sei es nur, um nichts zu verpassen. Oder um einen jener magischen Momente zu erwischen, in denen im Fernsehen das wahre Leben zum Vorschein kommen könnte. Wie bei Maruschka Detmers. Die Schauspielerin hatte sich im „Kölner Treff“ schnell wieder gefangen, als das Gespräch auf ihren nächsten Film kam. Der läuft nächste Woche im Ersten Programm.
Machen wir uns nichts vor: Es wäre naiv anzunehmen, Prominente in Interviews sozusagen in echt zu erleben, demaskiert. Der Moderator Roger Willemsen, der für seine Interviewreihen „0137“ und „Willemsens Woche“ in den Neunzigern mit Preisen überhäuft wurde, sagte kürzlich in einem Interview mit „sueddeutsche.de“: „Eigentlich halte ich überhaupt nichts mehr für bedenklich, weil ich glaube, dass das Fernsehen einen komplett fiktiven Charakter bekommen hat. Es wird nichts mehr geglaubt. Man glaubt die Polschmelze, die Vogel- und die Schweinegrippe nicht, man glaubt auch nicht, dass die Wirklichkeit vor der eigenen Haustür stehen könnte. Es besteht ein ganz grundsätzlicher Vertrauensverlust in das, was Medien sagen. Und deshalb gucken sich die Leute alles wie eine Schmonzette an – selbst die ,Tagesschau’.“
Vielleicht sind Talkshows auch Fernseh-Schmonzette geworden. Es wäre interessant gewesen, wie Willemsen bei Maruschka Detmers weitergemacht hätte. Der Moderator erhielt 1993 den Grimme-Preis. Man würdigte sein hohes Einfühlungsvermögen und die Tatsache, dass er als einer der wenigen im deutschen Fernsehen in grammatikalisch korrekten Sätzen zu sprechen wisse.
2001 wurde Charlotte Roche, Aushängeschild des Jugendsenders VivaZwei, für „ihren kompetenten und eigenen Moderationsstil“ für den Grimme-Preis nominiert. Die Moderatorin trat im September 2009 bei „3nach9“, der dienstältesten deutschen Talkshow, die Nachfolge von Amelie Fried an. Roches Abgang dort nach nur vier Monaten Mitte Januar wirft Fragen auf: War die 31-Jährige schlicht eine Fehlbesetzung – oder hat sich das Format doch in einer Weise überlebt, dass ihm durch junge Gesichter allein nicht mehr aufzuhelfen ist? Mit ihrer flippigen Art und ihrem vermeintlich unkonventionellen Interviewstil sollte Roche an der Seite von Giovanni di Lorenzo jüngere Zuschauergruppen ansprechen: „Wir wollen eine andere Sichtweise, die für alle Altersgruppen spannend ist“, sagte der Programmdirektor von Radio Bremen, Dirk Hansen, 2009. Stammzuschauer sollten dabei aber nicht verprellt werden. Nun läuft die Suche nach einer Neuen.
Die Causa Roche – ein Schnellschuss, ein Symptom, ein Missverständnis? Werden notorische Talkshowgucker gefragt, was ihnen seit längerem bei Talkshows missfällt, ist es weniger die grammatikalische Korrektheit. Geklagt wird vielmehr über zu viel Konventionelles, zu viel Abgesprochenes, zu wenig Überraschung. Ist die Talkshow in die Jahre gekommen?
Am 18. März 1973 begrüßte der Schauspieler Dietmar Schönherr die Zuschauer der WDR-Sendung „Je später der Abend“ mit den folgenden Worten: „Meine Damen und Herren, eine Talkshow, was ist das? Darüber zerbrechen sich seit einiger Zeit die Fernsehmacher in den verschiedenen Anstalten die Köpfe. Talk kommt von to talk, reden”, sagte Schönherr, das Ganze sei also eine Rederei. „Talkshow ist etwas, was wir alle nicht kennen, ich hoffe, Sie haben Lust, es gemeinsam mit mir und unserem Publikum hier kennenzulernen.“ Die Leute hatten Lust. „Je später der Abend“ war nicht die erste Rederei im deutschen Fernsehen, aber die erste, die sich an amerikanischen Vorbildern orientierte. Der Begriff „talk show“ stammt aus den USA, wo diese Form der Gesprächssendung in den Fünfzigerjahren aufkam. Freigeister wie Norman Mailer oder Gore Vidal konnten hier ungehindert reden und sich gerne auch beleidigen lassen. Als wegweisend im Bereich der Late-Night-Show galt zwischen 1954 und 1957 „Tonight“ mit Steve Allen. Vier Jahrzehnte später bedienten sich Jay Leno und Kollegen bei Allens Ideen, auch Thomas Gottschalk, der 1992 in Deutschland mit „Gottschalk Late Night“ eine klassische Late-Night-Show einführte.
All dies ist dem Buch „Die Geschichte der Talkshows“ zu entnehmen, das der Journalist Harald Keller geschrieben hat. Leider fehlen darin einige legendäre Momente. Etwa wie Fritz Teufel 1982 bei „3nach9“ den damaligen Finanzminister Hans Matthöfer mit Wasserpistole und Zaubertinte attackierte, was dieser mit einem Glas Wein quittierte (zu sehen auf Youtube). Unvergessen auch Romy Schneiders Auftritt 1974 bei Dietmar Schönherr und Reinhard Münchenhagen, wo die Schauspielerin vor der Kamera den Kollegen Burkhard Driest mit „Sie gefallen mir, sie gefallen mir sehr” anmachte. Okay, die Kleider, die Frisuren der Moderatoren und der Gäste, das ist besser geworden mit den Jahren. Es wird nicht mehr geraucht wie bei Menge, dafür wurde das intellektuelle Niveau kontinuierlich gesenkt. Das überschaubare Potenzial an deutschsprachigen Stars taucht in zig Talkshows auf. Hier wird eine CD hochgehalten, dort ein Buch, da ein Film gelobt, dort der Moderator. Die Tendenz hat sich seit 1984 verstärkt, mit dem Start des Privatfernsehens, mit Blödeltalks, Krawallformaten und den Late-Night-Shows. Gottschalk, Schmidt, Kerner. Diese Sendungen büßen durch ihre Häufigkeit jeden Eventcharakter ein.
Eine ganz normale Fernsehwoche im Winter 2010: Am Montag Thomas Gottschalk bei „Beckmann“. Am Dienstag fragen sich die Ärztin Marianne Koch und die Moderatorin Susanne Conrad als „Menschen bei Maischberger“, ob zu viel Gesundheitsvorsorge krankmacht. Mittwochs empfängt Markus Lanz im ZDF Ilona Grübel. Thema: TV-Ärzte. Weißkittel auch bei „Plasberg“ im Ersten. Thema: „Bahn frei für die Klassenmedizin!“ Am Donnerstag gibt’s Kerner auf Sat1, und Maybrit Illner will im Zweiten wissen: „Wie kommen wir raus aus Afghanistan?“. Und am Freitag die wöchentlich wechselnden Formate in den Dritten Programmen: von „3nach9“ und „Riverboat“ über „Dickes B.“, „Tietjen und Hirschhausen“ bis zum „Kölner Treff“ und der „NDR Talkshow“. Bevor am Sonntag dann „Anne Will“ das letzte Wort der Woche spricht.
Es kernert und willt, es lanzt und beckmannt. Die Talkshow ist, wie Schönherr bemerkte, eine große Dampfplauderei. TV-Sendungen, deren Wesen darin besteht, dass Menschen miteinander reden, sind wie der Wetterbericht nicht für die Ewigkeit bestimmt. Möglicherweise wäre in diesem Zusammenhang an einen talkfreien Tag zu denken, wie es Helmut Schmidt einst für das gesamte Fernsehen gefordert hat. Vielleicht würden dann das Interesse und die Bedeutung des Formats für die politische Kultur wieder wachsen. „Bonanza“ erhält man heute noch auf DVD, den „Internationalen Frühschoppen“ mit Werner Höfer oder die grandiosen frühen Sendungen des „Kölner Treff“ mit Alfred Biolek und Dieter Thoma liegen in den Sender-Archiven. Oder geistern durch Youtube.
Kerner hin, Roche her, um den Bestand der Dampfplauderei muss man sich keine ernsten Sorgen machen. Talkshowgucken ist menschlich, allzu menschlich. Es gibt unzählige Erklärungsmodelle zur Rezeption von Talkshows. Eines interpretiert Unterhaltung als eine Form des Eskapismus. Angebote werden genutzt, um der Monotonie des Alltags zu entfliehen, indem man sich risikolos in interessant erscheinende, medial vermittelte Scheinwelten versetzen kann. Für den Produzenten Friedrich Küppersbusch ist Talkshow ein Guckloch im Fernsehen: „TV für Einsame.“ Ein Loch in die Wohnzimmerwand und „Sie gucken bei den Großbildungsbürgern von ,3nach9’ zu oder kloppen einen Durchguck zu dem geschmeidigen Gentleman mit Damenbesuch, ,Beckmann’.“ Talkshows, meint Küppersbusch, seien Angebote für Traum-Familien oder jedenfalls virtuelle Verlängerungen des eigenen (desolaten?) Bekanntenkreises. „Nicht zu Unrecht gelten die klassischen Talks als ,alt’, solange ich noch Bekannte, Freunde, Cliquen habe und selbst rausgehe, brauche ich die psychologische Dienstleistung nicht.“
Als psychologischer Dienstleister würde sich Jörg Thadeusz nicht unbedingt verstehen. Vor ein paar Jahren galt der Moderator als große Nachwuchshoffnung am Moderatoren-Himmel. Unkonventionell, unerschrocken, manchmal fast unberechenbar. Einen Teil dieser Hoffnungen hat der mittlerweile 41-jährige Moderator im RBB-Fernsehen eingelöst. Für Thadeusz ist der klassische Talk lange nicht in die Jahre gekommen. „Die Geschichten, die Talkshowgäste mitbringen, haben keine Altersangabe. Wer die Alten langweilt, wird auch den Jungen nichts Spannendes zu erzählen haben. Und umgekehrt. Wenn jüngere oder ältere Leute sich treffen, tun sie das, was nach wie vor das ursprünglichste Entertainment unter Menschen ist: sie sprechen miteinander.“
Nur tun sie das sehr, sehr oft. Was Jo Groebel über den Polit-Talk sagt, ließe sich auf alle Talkshowformate übertragen. „Das Politgespräch im Fernsehen und seine Showvarianten haben ihre Massenattraktivität durch Abnutzung verloren.“ Auch visuelle Aufpepper, Betroffenheitscouches mit „echten“ Leuten, denen mit Hartz IV Unangenehmes widerfahren ist, helfen ebenso wenig wie die Referenzen an Blogger und Twitter. „Theater mit eingerasteter Replay-Taste“, nennt Groebel das.
War früher also wieder einmal alles besser? Zu Zeiten der früh verstorbenen „3nach9“-Moderatorin Juliane Bartel, davor Karl-Heinz Wocker, Menge, Schönherr & Co.? „Die Stereotypen der Kritik an der Talkshow sind so alt wie die Talkshow selbst. Der Talkmoderator ist vergleichbar mit einem Fußballtrainer“, entgegnet Giovanni di Lorenzo, der „3nach9“ seit 1989 moderiert. Jeder denke, das könne er auch. Kritiker wiederum sagen: Bahnen sich heutzutage zwischen Talk-Gästen Kontroversen an, werden die von vielen Moderatoren viel zu oft im Ansatz erstickt. Warum ist das so? Und wann hat es begonnen?
Mit dem Wechsel von Sabine Christiansen zu Anne Will ließe sich laut Groebel zumindest ein quantitativer Unterschied zu Hoch-Zeiten des Talk-Genres festmachen. Der Sonntagabend war zum einen Abschluss, läutete zum anderen aber die politische Woche ein. Diesen Sendeplatz gibt es mit „Anne Will“ noch. „Doch inzwischen markieren so viele weitere Shows über die Woche verteilt das Politikgeschehen, dass selbst bei hoher Gesprächsqualität die Signalwirkung als Alleinstellungsmerkmal verloren gegangen ist.“ Je mehr geredet wird, desto mehr wird das Gleiche gesagt. Gysi, Westerwelle, zu Guttenberg, am Ende führt das ständige Auftauchen derselben Gäste im reinen Polit-Talk wie auch in Abweichungen à la „Beckmann“ zu Überdruss, Abstumpfung und zur Einschlafhilfe – mit Ausnahme weniger Superstars, die immer für Zoff und Polarisierung gut sind.
Vielleicht erwarten wir als Zuschauer einfach zu viel. Wer glaubt, dass aus der bloßen Zunahme an öffentlichen Redemöglichkeiten Qualitätsfernsehen oder gar eine Belebung der Demokratie erwächst, ist selber schuld. Um aber wieder mehr Spannung in Talkshows zu kriegen, fordert Groebel für den Polit-Talk eine Generalrenovierung der meisten Formate. Nicht als Abschied von bewährten Moderatoren, „aber als Mut zu Innovation und hier und da neuem Personal“. Nötig seien eine Befreiung vom Quotenzwang, Mut zur Langsamkeit, Mut zu neuen Themen außerhalb der Tagesaktualität sowie neue, junge Politikgäste, neue, junge Moderatoren, wie sie gerade aus dem Fundus der öffentlich-rechtlichen Jugendsender rekrutiert werden könnten (Gottschalk und Jauch waren in den Achtzigerjahren auch unbekannt!).
Charlotte Roche, 31, ist eine solche neue, junge Moderatorin. Der krebskranke Regisseur Christoph Schlingensief war im September bei „3nach9“ in der Premieren-Sendung von Roche zu Gast. Es gibt Menschen, die halten das Gespräch über Krankheit, Vermarktung, Scham, Leben und Sterben für einen der Talk-Höhepunkte im vergangenen Jahr. Eingefleischte „3nach9“-Seher nervte Stimme und Interviewtechnik der von ihrem Gast sehr begeisterten Moderatorin. Das war der Anfang vom Ende. Die neue Moderatorin musste gehen. Die Talkgemeinde – ein geschlossener Zirkel? „In erster Linie muss man mit den Zuschauern auskommen, die man hat“, sagt Giovanni di Lorenzo. „Denen darfst du nicht das Gefühl geben, dass sie nicht mehr willkommen oder gemeint sind.“ Zwar bleibe das Anliegen der Verjüngung immer richtig – aber wer bei den Öffentlich-Rechtlichen um 22 Uhr am Freitagabend ein Talk-Format vornehmlich für junge Leute machen wolle, der würde scheitern. „Die jungen Leute haben am Freitagabend etwas Besseres zu tun, ganz egal, wie sehr wir uns anstrengen.“
Am Ende müsste die Zukunft der Talkshow vielleicht so aussehen wie in jenem schönen Bonmot, das dem Komponisten und Künstler John Cage zugeschrieben wird. Cage, alles andere als maulfaul, soll einmal gesagt haben: Das ist eine sehr gute Frage, ich möchte sie nicht durch eine Antwort verderben.
Markus Ehrenberg
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