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Buntes Leben. Ein Feuerschwamm (Latrunculia magnifica) im Pazifik, sein Ursprung reicht vermutlich bis zu 700 Millionen Jahre in die Erdgeschichte zurück. Damals bildeten Schwämme den Ausgangspunkt für mannigfaltiges Leben, vermuten Forscher.
© picture alliance / J.W.Alker

Wie der Sauerstoff in die Welt kam: Schwämme waren Pioniere der Evolution

Urzeitliche Schwämme trugen lange vor der Kambrischen Explosion dazu bei, dass der Sauerstoffgehalt stieg. So bereiteten sie vielen anderen Arten den Weg.

Ohne Sauerstoff gäbe es kein höheres Leben. Keine Kohlmeisen, Schnecken, Haie – und auch keinen Menschen. Deshalb verwundert es nicht, dass die ersten Tiere erst Auftrieb erhielten, als die Sauerstoffkonzentration in den Urmeeren vor rund 580 Millionen Jahre deutlich anstieg. Rund 40 Millionen Jahre später führte das zur „Kambrischen Artenexplosion“ (benannt nach dem Erdzeitalter), in der bis auf die Wirbeltiere alle Tierstämme schlagartig die Weltbühne betreten. Der Sauerstoff im Meer ist offenbar der wichtigste Geburtshelfer unserer Vorfahren – so steht es zumindest in den Lehrbüchern.

Wenig Sauerstoff war kein Hindernis für mehrzelliges Leben

Aber musste Sauerstoff wirklich erst reichlich in den Weltmeeren vorkommen, ehe die Tiere loslegen konnten? Wissenschaftler beginnen, an der seit Jahrzehnten etablierten Sicht der Dinge zu kratzen. Laborexperimente mit primitiven Tieren, genetische Analysen und schlichtes Nachdenken führen einige Forscher zu der durchaus revolutionären Ansicht, dass eine „geringe Verfügbarkeit von Sauerstoff wahrscheinlich kein Hindernis für multizelluläres Leben war, sich zu entwickeln“. So formulieren es die Geologen Andrew Knoll und Erik Sperling von der Harvard-Universität im Fachmagazin „PNAS“. Und es gibt einen Kandidaten für dieses frühe mehrzellige Leben: Schwämme, denn die kommen mit erstaunlich wenig Sauerstoff aus.

So wiesen Donald Canfield und Daniel Mills von der Universität im dänischen Odense nach, dass Brotkrumenschwämme, die sie direkt aus dem Wasser vor der Küste ihres Forschungszentrums für Meeresbiologie fischten, mit nur 0,5 bis 4 Prozent des heutigen Sauerstoffniveaus leben können. Und das, obwohl die Tiere in ihrem Gewässer deutlich mehr Sauerstoff vorfinden. „So niedrige Sauerstoffkonzentrationen gab es womöglich lange vor der Zeit, in der wir bislang den evolutionären Ursprung der Tiere vermuten“, sagt Mills. Er schätzt, dass es die ersten mehrzelligen Tiere rund 100 Millionen Jahre früher gab, als bisher gedacht. Aus dieser Epoche gibt es keine unumstrittenen Fossilien, doch Genanalysen weisen darauf hin, dass es bereits vor 700 Millionen Jahren erste Schwämme gab.

Lenton stellt das herkömmliche Modell zur Entwicklung der Tierwelt auf den Kopf

Es sind schlichte und genügsame Tiere, ihr Körper ist ein einziger organloser Filter, der aus dem Wasser Nährstoffe und Sauerstoff zieht. Doch gerade sie könnten es gewesen sein, die den tierischen Stammbaum begründet haben, ohne selbst viel Sauerstoff zu verbrauchen. Dieser Befund hat den Geologen Tim Lenton von der Universität Exeter dazu gebracht, die Puzzleteile neu zu arrangieren und das klassische Denken über Sauerstoff und Tierevolution auf den Kopf zu stellen. Im Fachblatt „Nature Geoscience“ veröffentlichte er seine Gedanken. Demnach brauchte es gar nicht so sehr eine sauerstoffreiche Atmosphäre, um das Urmeer mit dem Lebensspender anzureichern. Die entscheidende Rolle spielten die Schwämme, die mit relativ wenig Sauerstoff auskommen.

Er begründet das folgendermaßen: Schwämme filtern ihre Nahrung aus dem sie umgebenden Wasser, vor allem Plankton. Die so verspeiste Biomasse verrottet folglich nicht auf dem Meeresboden, ein Prozess, der sonst Sauerstoff binden würde. Also reicherte sich das Wasser in Gegenwart der primitiven Tiere mit dem Element an. Der steigende Sauerstoffgehalt wiederum führte dazu, dass weniger Phosphor am Meeresboden freigesetzt wurde. Die Folge: Als das Angebot dieses für einige Planktonarten wichtigen Nährstoffs sank, ging die Produktion von Biomasse zurück, was den Bedarf an Sauerstoff in den Ozeanen noch weiter senkte. So konnte sich der Sauerstoff vor 600 Millionen Jahren wahrscheinlich bis in die Tiefsee ausbreiten und der Kambrischen Explosion den Weg bereiten. Wenn Lenton recht hat, reagierten Tiere also nicht passiv auf die Anreicherung von Sauerstoff, sondern sie gehörten zu den treibenden Kräften dieses Prozesses.

Schwämme und Cyanobakterien als Wegbereiter der vielfältigen Lebewelt

Damit stellen sich Schwämme als unerwartete zweite Förderer des globalen Sauerstoffhaushalts an die Seite von Cyanobakterien. Diese primitiven Mikroorganismen begannen bereits vor rund 2,7 Milliarden Jahren, Fotosynthese zu betreiben, bei der als Abfallprodukt Sauerstoff anfällt. Wie eine Genstudie von Bettina Schirrmeister von der Universität Bristol nahelegt, wurden die Organismen vor gut 2,3 Milliarden Jahren mehrzellig – und produzierten noch mehr von dem wichtigen Gas, das in die Atmosphäre entwich. Das führte zur „Großen Sauerstoffkatastrophe“: Der freie, chemisch recht aggressive Sauerstoff veränderte die Luft damals so nachhaltig, dass sauerstofflos lebende Organismen das Nachsehen hatten.

Doch das damalige reichhaltige Sauerstoffangebot in der Gashülle reichte nur bis in die oberen Ozeanschichten, aber nicht tiefer hinab ins Meer. Da brauchte es offenbar erst einen zweiten Helfer, die Schwämme. Die Harvard-Forscher Knoll und Sperling sind sich zwar nicht sicher, ob Lentons Überlegungen im Detail genau der Wirklichkeit entsprechen, aber sie sind überzeugt, dass Schwämme den richtigen Weg weisen. Für sie steht fest: „Von der herkömmlichen Sicht, wie das tierische Leben entstanden ist, können wir uns verabschieden.“

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