Jugend in der Leistungsgesellschaft: Schule, Sport, Stress
Eine Studie kritisiert: Eltern fordern und fördern zu viel. Für freies Spielen haben Kinder kaum noch Zeit. 84 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben oft das Gefühl, für Dinge, die Spaß machen, keine Zeit zu haben
Die Wochentage des Siebenjährigen aus Berlin sind mit nützlichen Aktivitäten durchgetaktet wie ein Erwachsenentag: nach der Schule Sport, Musik und Nachhilfe, am Wochenende gibt es noch Lernförderung von Papa. Woanders übernimmt eine zehnjährige Tochter zunehmend die Aufgaben ihrer alleinerziehenden Mutter: geht einkaufen und kümmert sich um die jüngere Schwester. Beide stehen unter hohem Druck, die Anforderungen ihrer Eltern zu erfüllen. Für freies, selbstbestimmtes Spielen haben Mädchen und Jungen kaum noch Zeit.
Psychisch und körperlich belastet
„Man kann Kinder nicht genug fördern“, lautet ein weitverbreiteter Glaube. Doch eine Studie des Erziehungswissenschaftlers Holger Ziegler von der Universität Bielefeld im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung liefert gegenteilige Daten. Auch Kinder und Jugendliche erleben Stress, also ein Bündel psychischer und körperlicher Belastungen. Gut jedes sechste Kind (18 Prozent) und jeder fünfte Jugendliche (19 Prozent) ist sogar stark gestresst. Eltern fordern und fördern zu viel – und stressen sich dabei noch selbst. Die Bepanthen-Kinderförderung gehört zum Pharmakonzern Bayer HealthCare. Die Ergebnisse wurden am Donnerstag in Berlin präsentiert.
Über die Hälfte nimmt nach der Schule Termine wahr, ohne das selbst zu wollen
Als „Ungleichgewicht zwischen wahrgenommenen Anforderungen und der subjektiven Fähigkeit, diese Anforderungen zu erfüllen“, definiert Holger Ziegler das Problem. Gestresste Kinder teilen Sorgen und emotionale Erschöpfung, zeitliche Belastung und körperliche Symptome wie Kopf- oder Bauchschmerzen oder fehlenden Appetit. Und allen fehlt es an Selbstbestimmung. 84 Prozent von ihnen haben oft das Gefühl, keine Zeit zu haben für Dinge, die ihnen Spaß machen. 54 Prozent haben nach der Schule Termine, die sie eigentlich nicht machen wollen.
Besonders an der Stress-Studie ist, dass die Forscher das Erleben der Kinder in den Fokus gerückt haben. 1100 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 16 Jahren wurden in den Großstädten Berlin, Dresden und Köln in Face-to-Face-Interviews befragt, zwei Drittel davon waren jünger als elf Jahre alt. Die Antworten wurden dann mit denen der Eltern verglichen. Wegen der hohen Zahl der Befragten und ihrer Auswahl per Zufall gelten die Ergebnisse für Großstädte als repräsentativ.
Auch Arbeitslosigkeit und Schulden der Eltern stressen Kinder
Soziale Faktoren entscheiden, wie sehr Kinder von Stress betroffen sind und was ihren Stress ausmacht: Kinder mit alleinerziehenden Eltern und Familien mit Migrationshintergrund sind besonders gefährdet. Auch Arbeitslosigkeit, finanzielle Probleme und Schulden der Eltern stressen die Kinder. 82 Prozent der Kinder mit hohem Stresslevel fühlen sich von Aufgaben im Haushalt belastet.
Kinder leiden aber auch an „Förderstress“ und den Erwartungshaltungen der Eltern: 39 Prozent aller 12- bis 16-Jährigen haben an drei oder mehr Tagen pro Woche nach der Schule noch mindestens einen festen Termin. Wobei die Termindichte alleine, für Ziegler überraschend, noch nichts über den Stresslevel des Kindes sagt. Entscheidend sei, ob die Aktivitäten von den Kindern gewollt sind und somit als „ihre Zeit“ empfunden werden. 85,6 Prozent der gestressten Kinder dürfen in der Freizeit nicht selbst entscheiden. 60,2 Prozent werden nur manchmal bis nie nach ihrer Meinung gefragt. „Freizeit ist Freizeit“, egal was das Kind macht, dieser Satz findet nur bei 15 Prozent der Eltern von gestressten Kindern Zustimmung.
Die Kinder fühlen sich als Versager, ziehen sich zurück oder werden aggressiv
Die Folgen von Stress äußern sich – wie bei Erwachsenen – psychisch sowie körperlich: Kinder und Jugendliche fühlen sich unwohl und haben häufig eine negative Selbstwahrnehmung. 67 Prozent sind oft wütend, zornig oder – selbst in der Fülle des fremdbestimmten Angebots – gelangweilt, was auch zu höherer Aggressionsbereitschaft führt. 65 Prozent können schlechter einschlafen, haben häufiger Kopf- und Bauchschmerzen oder leiden häufiger unter Müdigkeit als ihre weniger gestressten Altersgenossen. Das sind wichtige Warnsignale. „Magst du dein Leben, so wie es ist?“ Diese Frage beantworten 29,9 Prozent mit „manchmal/gar nicht“. Die Kinder fühlen sich als Versager, die Lust an der Schule schwindet, sie schämen sich und ziehen sich zurück. Elf Prozent der Jugendlichen mit hohem Stresslevel sind depressiv verstimmt. Ziegler hätte auch positive Stress-Folgen wie mehr Leistungsbereitschaft erwartet, belegbar seien aber nur negative Folgen. Die Kinder und Jugendlichen fühlen sich nicht mehr in der Lage, ihre Probleme zu meistern. Knapp die Hälfte fürchtet, die Eltern zu enttäuschen. Das Sensorium der Kinder für die in sie gesteckten Erwartungen ist gut.
Eltern glauben oft, die Kinder seien eher unterfordert
Die Eltern umgekehrt nehmen die Belastung ihrer Kinder häufig nicht wahr: 87,3 Prozent der Eltern von stark gestressten Kindern glauben nicht, ihr Kind zu überfordern. 40 Prozent fürchten im Gegenteil, ihre Kinder noch nicht genügend zu fördern. Nur etwa 25 Prozent haben Sorgen, zu überfordern.
Dabei schaden sich die Eltern mit ihrem „Stressförderregime“ häufig selbst, so Ziegler. Während Väter und Mütter ihre Kinder treiben, empfindet etwa ein Drittel derer mit stark gestressten Kindern die Elternschaft selbst als stressig – finanziell und stärker noch zeitlich. „Möglicherweise ist Stress eine zentrale Problemlage des Aufwachsens im 21. Jahrhundert“, sagt Ziegler.
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