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Berühmter Schiffbruch: Der französische Maler Théodore Géricault zeichnete etliche Entwürfe für sein Gemälde „Floß der Medusa“.
© picture alliance/akg-images

Forschung zu Meer und Seefahrt: Schiffbruch aus dem Fernsehsessel betrachtet

Eine Tagung beschäftigte sich mit der bedrohlichen Seite des Meeres in Literatur, Kunst und Medien.

Das Meer und die Seefahrt stehen einerseits für den Aufbruch zu neuen Ufern, für Abenteuer und Mut. Anderseits sind sie auch mit dem Aufbruch ins Ungewisse, mit der Bedrohlichkeit des unberechenbaren Elements und dem Schiffsuntergang verbunden. „Der Begriff Schifffahrt ist eine Art Schatztruhe von Motiven, Bildern und Gedanken“, sagt Professor Hans Richard Brittnacher vom Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität. Ende vergangenen Jahres organisierte er gemeinsam mit seinem Kollegen Achim Küpper, promovierter Germanist und derzeit Research Fellow der Alexander-von-Humboldt-Stiftung in Dahlem, eine Tagung zu diesem Thema.

Dass das Thema Schiffbruch heute so aktuell ist wie vor 200 Jahren, zeigte Hans Richard Brittnacher in seinem Vortrag „Flüchtlings- und Überlebenstragödien zur See – von Théodore Géricault bis Merle Kröger“. Géricaults berühmtes Gemälde „Das Floß der Medusa“ sei eine Metapher für einen Untergang, der das Schlimmste im Menschen freilege, erklärte der Literaturwissenschaftler. Das Bild, das heute im Louvre hängt, entstand 1819 unter dem Eindruck des Schiffbruchs der französischen Fregatte „Méduse“, der in Kannibalismus auf dem Rettungsfloß endete. Es zeige, sagte Brittnacher, dass man dem Schiffbruch nicht mit heiler Haut entkommen könne. Selbst wenn man gerettet werde, sei diese Erfahrung so dramatisch und traumatisierend, dass sie ein Grundvertrauen in die Möglichkeit des menschlichen Zusammenlebens nachhaltig erschüttere: „Im Zentrum des Bildes sitzt zwischen den vielen Toten ein Mann in der Pose des Denkers. In seinem Blick erkennt man, dass er das Schlimmste mitangesehen hat, was man erleben kann. Darüber ist er in eine Art melancholischen Starrsinn verfallen, der keine Bewegung mehr zulässt.“

In seinem Vortrag verglich Hans Richard Brittnacher Géricaults Darstellung eines Schiffsunglücks und seiner Folgen mit dem 2015 veröffentlichten Kriminalroman „Havarie“ von Merle Kröger. In der Handlung eines Thrillers werden die unterschiedlichen Perspektiven und Interessen in der Flüchtlingsthematik dargestellt – eines Mittelmeer-Luxusliners, eines in Not geratenen Flüchtlingsboots und eines Rettungsschiffs der Küstenwache. „Das ist eine interessante Verwebung von persönlichen Schicksalen mit der aktuellen Flüchtlingsproblematik“, sagte der Literaturwissenschaftler. Im Zentrum stehe die Gruppe namenlos bleibender Flüchtlinge, die zum Anlass werden für Konflikte, Auseinandersetzungen und Geschichten.

Der Zuschauer ist froh, selbst nicht betroffen zu sein

Eine weitere Dimension verkörpern die Gäste des Kreuzfahrtdampfers, die das Ganze vom Swimmingpool aus „als ästhetisches Spektakel genießen“, konstatierte Brittnacher. „Hier stoßen wir auf den Schiffbruch als Daseinsmetapher, wie Hans Blumenberg ihn in seinem Essay ,Schiffbruch mit Zuschauer’ beschreibt.“ Blumenberg zufolge sei das Katastrophische des Untergangs zugleich mit dem Szenischen, dem Theatralen der Zuschauerposition verknüpft, dem Bildtypus der distanzierten Beobachtung des Unglücks vom festen Land aus. Dieses Element werde in der Literatur immer wieder aufgegriffen, erklärte auch Achim Küpper. Bereits Lukrez schilderte einen Schiffbruch, der von Zuschauern vom Ufer aus „mit Genuss“ beobachtet wird. Nicht weil man sich am Leid anderer erfreue, sondern weil man froh sei, selbst nicht betroffen zu sein. In seinem Vortrag „Schrift und Bild im Horizont des Ozeans: Flottierende Medien – vom Wüstenbuch zum digitalen Schreiben, von der globalen Bilderflut zum Bildverbot“ reflektierte Küpper die Medien- und Bilderwelt sowie die Entwicklung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bis hin zur heutigen Auflösung der Fixierung der Schrift durch die Digitalisierung.

Das von Blumenberg beschriebene Phänomen des „Schiffbruchs mit Zuschauer“ finde sich auch in unserer heutigen Medienwelt, sagt Küpper. „Im Fernsehen werden Flüchtlingsschicksale mit dem Ziel präsentiert, eine möglichst gelungene Sendung daraus zu machen mit vielen Zuschauern. Das ist der heutige Schiffbruch vom Land aus betrachtet: auf der Couch zu Hause.“

Marina Kosmalla

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