Medizin: Schicksal Gentest
Mittlerweile reichen Blutproben der Eltern, um das komplette Erbgut eines Fötus im vierten Monat zu rekonstruieren. Die neuen Möglichkeiten der Diagnostik sind aber umstritten.
Das kleine Mädchen mit den blauen Augen strahlt in die Kamera. Es rennt mit seinem kleinen Bruder am Strand entlang. Es erklärt, dass es gerne Lehrerin werden möchte. Doch daraus wird nichts. Christiane Benson hat eine seltene, sehr schwere Erbkrankheit, deren voller Name „Neuronale Ceroid-Lipofuszinose“ lautet. Sie wird keine 20 Jahre alt. Bereits jetzt verliert sie ihr Augenlicht. Epileptische Anfälle werden folgen. Ihr Verstand wird sich nach und nach verabschieden, dann wird sie sich nicht mehr bewegen können. Am Ende steht der Tod. Unausweichlich, denn es gibt keine Heilung.
Als Charlotte und Craig Benson sich 1997 verliebten, ahnten sie nicht, wie außergewöhnlich ihre Verbindung ist. Elf Jahre später kam heraus, dass sie beide eine Krankheit an ihre Kinder weitergeben können, von der sie nie gehört hatten. Sie wird nicht dominant vererbt. Beide Elternteile sind gesund, obwohl sie eine kranke Version des betreffenden Gens in sich tragen. Ihre Tochter jedoch bekam zwei fehlerhafte Varianten ab.
Es müsste einen Test geben, der Eltern künftig vor der Zeugung eines Kindes vor solch einer Möglichkeit warnt, beschlossen die Bensons. 2008 wendeten sie sich an Stephen Kingsmore vom Children’sMercy-Krankenhaus in Kansas City und rannten offene Türen ein. Gemeinsam mit Kollegen hat Kingsmore genau so einen Test entwickelt. Wie sie Anfang 2011 im Fachjournal „Science Translational Medicine“ berichteten, kann das Erbgut damit auf 448 potenzielle Genleiden abgeklopft werden. Derzeit wird Version zwei des Kingsmore-Tests unter anderem in Berlin am Max-Planck-Institut (MPI) für molekulare Genetik und an der Charité erarbeitet. Sie soll 1222 Gene umfassen, die vor der Zeugung eines Kindes bei Mutter und Vater abgeklärt werden.
Forscher der Universität von Washington sind jetzt noch einen Schritt weiter gegangen: Wie sie in der aktuellen Ausgabe von „Science Translational Medicine“ schreiben, können sie mithilfe eines Bluttests das gesamte Genom eines Fötus im vierten Monat entschlüsseln und damit im Erbgut nach mehr als 3000 Ein-Gen-Krankheiten suchen. Noch ist die Methode für die Diagnostik viel zu ungenau und mit Kosten von mindestens 50 000 Euro auch zu teuer. „Aber sie zeigt, was theoretisch machbar ist und wo die Reise in der Pränataldiagnostik hingehen könnte“, sagt Bernd Timmermann, der am MPI für molekulare Genetik die Sequenzierabteilung leitet.
Bereits über den neuen Bluttest der Firma LifeCodexx, der im Sommer auf den Markt kommen soll, wird in Deutschland sehr kontrovers diskutiert. Dabei kann er nur die Trisomie 21 (Down-Syndrom) sowie die Trisomien 13 und 18 aufspüren, also Krankheiten, bei denen ein ganzes Chromosom dreimal statt zweimal vorliegt. Die Tests im Einzelnen:
TRISOMIEN FRÜH ERKENNEN
Bereits in der zwölften Schwangerschaftswoche soll „PraenaTest“ der Firma LifeCodexx werdenden Müttern Gewissheit geben, ob ihr Kind an einer vererbten geistigen Behinderung, dem Down-Syndrom, leidet. Dafür reichen 15 Milliliter Blut der Mutter. Denn während der Schwangerschaft ist in ihrem Blutplasma nicht nur ihr eigenes Erbgut zu finden, sondern ab der vierten Woche auch eine kleine Menge zellfreien Erbguts (DNS) des Embryos. Sie stammt aus abgestorbenen, zersetzten Zellen aus dem Mutterkuchen. Die DNS-Stücke werden im Labor vervielfältigt und anschließend den einzelnen Chromosomen zugeordnet. Daraus kann man relativ einfach und zuverlässig abzählen, ob etwa Chromosom 13, 18 oder 21 dreifach vorliegen. Etwa zwei Wochen dauert es, bis ein Ergebnis vorliegt. Der Test wird etwa 1000 bis 1400 Euro kosten, die Frauen müssen ihn aus eigener Tasche finanzieren. Er soll nur Risikoschwangeren angeboten werden.
Bisher konnte man Trisomien nur über eingreifende (invasive) Methoden wie die Fruchtwasseranalyse oder eine Biopsie des Mutterkuchens feststellen. Das hat seinen Preis: In 0,3 bis ein Prozent der Fälle wird damit eine Fehlgeburt ausgelöst – auch wenn der Fötus gesund war. Jahr für Jahr betrifft das hunderte Ungeborene. Viele Frauenärzte sind deshalb für den neuen Test. Zwar reicht er allein nicht aus, bei einem positiven Ergebnis sollte die Frau zusätzlich eine Fruchtwasseruntersuchung machen. Doch er kann viele gesunde Föten vor unnützer invasiver Diagnostik schützen. Gegner befürchten, dass es ein Bluttest den Schwangeren allzu leicht macht, sich gegen ein Kind mit Down-Syndrom zu entscheiden.
DER KINGSMORE-TEST
Im Gegensatz zu Blutuntersuchungen während der Schwangerschaft lassen sich hier Vater und Mutter auf hunderte Gendefekte testen, bevor sie ihr Wunschkind zeugen. Die Zahl mag groß erscheinen, ist aber nur die Spitze des Eisbergs, wie Hilger Ropers, Direktor am MPI für molekulare Genetik, betont. „Wir kennen für 3500 monogenetisch bedingte Erbleiden die molekulare Ursache“, sagt er. „Doch es gibt mindestens 7000, vielleicht sogar 15 000.“ Der Kingsmore-Test beschränkt sich bewusst auf einige hundert schwere Störungen wie die, an der Christiane Benson leidet. „Schon das ist für unsere Gesellschaft revolutionär und kann für Paare erhebliche Probleme schaffen“, sagt Peter Propping, Humangenetiker an der Universität Bonn. Denn auch wenn beide Elternteile Träger einer rezessiven monogenetischen Erkrankung sind, muss das Kind nicht betroffen sein. Das Risiko beträgt 1:4. Soll man eine Schwangerschaft wagen? Adoptieren? Sich gar einen anderen Partner suchen? Der Test ist keine Science-Fiction, auch mit dem deutschen Gendiagnostikgesetz käme er nicht in Konflikt. Voraussetzung ist allerdings eine ausführliche Beratung der potenziellen Eltern.
EIN KOMPLETTES GENOM DES FÖTUS
Technisch machbar – wenn auch aufwendig, langwierig und teuer – ist nun, per Blutprobe das komplette Genom eines Fötus zu rekonstruieren. Die Forscher der Universität von Washington ermittelten aus einer Blutprobe der Mutter und einer Speichelprobe des Vaters zunächst das Erbgut der Eltern. Wie beim PraenaTest nutzten auch Shay Jendure und seine Kollegen den Umstand, dass im mütterlichen Blutplasma etwas zellfreie DNS des Fötus schwimmt. Allerdings war die Analyse ungleich komplizierter. Aus Unmengen mütterlicher DNS die des Fötus herauszufiltern, ist alles andere als trivial. Timmermann schätzt die Kosten auf mindestens 50 000 Euro. Außerdem brauche man dafür mehrere Monate.
Theoretisch kann man mit der Methode alle 3500 bekannten Ein-Gen-Erkrankungen im vierten Schwangerschaftsmonat aufspüren, schreiben Shendure und seine Kollegen in „Science Translational Medicine“ – und zwar nicht nur jene Erbleiden, die die Eltern an das Kind weitergegeben haben, sondern auch neue Defekte, die während der Schwangerschaft entstanden sind. Bei einem Kind haben die Forscher 39 von 44 solcher neuen Fehler richtig vorhergesagt. Doch selbst die Autoren geben zu, dass sie im Moment vor allem Datenberge produzieren, aber bei der Interpretation hinterherhinken. „Die Arbeit zeigt, dass der Weg bis zu einem sicheren Bluttest dieser Art noch sehr weit ist“, sagt Ropers.