Visueller Antisemitismus: Sammler übergibt Archiv antisemitischer Bilder an die TU Berlin
Das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin kann eine einmalige Sammlung antisemitischer Bilder erforschen - und damit Aufklärungsarbeit leisten.
Als seine Eltern im Jahr 1944 von Antwerpen nach Auschwitz deportiert wurden, war Arthur Langerman keine zwei Jahre alt. Mehr als 30 seiner näheren Angehörigen sind von den Nazis ermordet worden. Nur die Mutter überlebte das Lager und fand ihn nach dem Krieg in einem Waisenhaus wieder. Um das Unbegreifliche begreifen zu lernen, die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden und seiner Familie zu verarbeiten, trug der Belgier seit 1961 ein immenses Arsenal von Artefakten des visuellen Antisemitismus zusammen.
Heute besitzt der in Brüssel ansässige Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer die weltweit größte Sammlung an Bildmaterial judenfeindlicher Hasspropaganda. Die Stücke stammen aus verschiedenen Epochen, vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart, von West- und Mittel- nach Osteuropa bis in den arabischen Raum. Die Mehrzahl aber lässt sich auf die Zeit zwischen 1890 und 1945 datieren, als der biologistische Antisemitismus seine letztlich mörderische Hochphase hatte.
Material für Bildungsarbeit und Ausstellungen
Nun hat Arthur Langerman seine inzwischen um die 9000 Einzelstücke zählende Sammlung dem Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) der Technischen Universität Berlin übergeben. Das Material, das dem ZfA in digitaler Form bereits eine Weile zur Verfügung steht, soll dabei nicht nur als Quellenbasis und Forschungsgrundlage dienen. Auch für die Bildungs- und Ausstellungsarbeit soll es künftig verwendet werden.
Bei der Veranstaltung zur Übergabe der Sammlung an die TU-Berlin am Mittwoch erklärte Arthur Langerman, wie drängend und hochaktuell der Kampf gegen Antisemitismus sei. Die Aufklärung der Jugend zwecks Eindämmung der neuerdings stark aufkeimenden uralten Ressentiments sei ein zentrales Motiv für die Übergabe gewesen, sagt Langerman.
Gerade heute, wo judenfeindliche Bilder vermehrt durch das Internet geisterten und auch Teile der Popkultur durchseuchten, sei es ungemein wichtig, die Funktionsweisen antisemitischer Bildsprache noch besser verstehen zu lernen, erklärte Uffa Jensen, Professor am ZfA. Der Experte für Emotionsforschung untersucht die Produktion kollektiver Gefühle wie Hass, Zorn, Ekel und Angst gegenüber als „anders“ definierten Gruppen wie Juden, Muslimen oder Flüchtlingen.
"Ekelbilder" als Urlaubspostkarte
Neben mehr als Tausend handgezeichneten Skizzen, mehreren Hundert Plakaten sowie zahllosen Druckwerken und Gemälden enthält die Sammlung Langerman auch etwa 5000 Postkarten, auf denen Juden bildlich verunglimpft werden. Besonders aufschlussreich seien die zahllosen "Ekelbilder", die meist im Kontext von Urlaub und Tourismus stünden. Auf diesen nicht selten mit Urlaubsgrüßen beschriebenen Ansichtskarten werden Jüdinnen und Juden meist als physische Zumutung in öffentlichen Bädern illustriert. Über die Darstellung von Schmierigkeit, großen Nasen, fülligen Leibern und Körperausscheidungen sollte das Bedürfnis nach Abgrenzung und physischer Distanz produziert werden, sagt Jensen.
So sei es kein Wunder, dass Juden auf vielen Bildern des frühen 20. Jahrhunderts nicht nur als schnorrende Lumpensammler, bolschewistische Agenten, kapitalistische Strippenzieher und Weltverschwörer, sondern auch als Ungeziefer und Monster gezeigt werden.
Nazis bauten auf Alltagsantisemitismus auf
Das schillernde Arsenal antisemitischer Bildwelten war ein idealer Anknüpfungspunkt für die Praxis der Entmenschlichung im Nationalsozialismus. So konnten die Nazis auf eine tradierte Kultur des Alltagsantisemitismus aufbauen, die sich in zahllosen Artefakten von Bierkrügen über Gehstöcke bis hin zu Postkarten manifestierte. Allerdings nahmen die Bilddarstellungen im NS noch weitaus drastischere Formen an, sagt Jensen. Die genaue Rolle des visuellen Antisemitismus in der judenfeindlichen Praxis müsse aber erst noch erforscht werden. Arthur Langerman hält den Hauptzeichner des NS-Blatts „Der Stürmer“ Philipp Ruprecht, alias Fips, jedenfalls für einen der Hauptverantwortlichen des Holocaust.
Was die Sammlung Langerman so einzigartig macht, ist ihre breite Streuung. Hier könne man erforschen, wie bestimmte Motive von einem Land ins nächste und von einer Zeit in die andere diffundierten, sagt Jensen. Auch über den europäischen Kontext hinaus. Denn dass die Zeichenwelt des westlichen Antisemitismus auch die spätere Bilderproduktion arabischer und iranischer Provenienz beeinflusst hat, ist offenkundig. Und auch heutige Karikaturen, wie jene aus der "Süddeutschen Zeitung" vom 21. Februar 2014, die Facebook-Gründer Mark Zuckerberg als krummnasigen Kraken zeigte, dockt an eine lange Tradition an.
Bilder müssen in einen Kontext gesetzt werden
Die wohl heikelste Frage ist, wie man diese Bilder im Museumskontext zeigt, ohne die dargestellte Hasspropaganda bloß zu reproduzieren. „Mit einer simplen Bildunterschrift fängt man ein solches Motiv nicht wieder ein“, sagt Jensen. Allerdings zirkulierten derartige „Hate-Pictures“ heute ohnehin in den Weiten des Webs. Man dürfe sie nicht bloß illustrativ verwenden, sondern müsse über die Methodik der Bilder sprechen, ihre fatale Wirkungsweise offenlegen. Einen ersten Versuch, die Bilder zu kontextualisieren, zeigte eine studentische Tafel-Ausstellung im Lichthof der TU. Öffentlich zugänglich soll sie zu einem späteren Zeitpunkt am neuen ZfA-Standort in der Kaiserin-Augusta-Allee in Moabit sein, wo auch das Langerman-Archiv untergebracht wird.
Der Regierende Bürgermeister und Wissenschaftssenator Michael Müller (SPD) sagte bei der Übergabe des Archivs, es sei keineswegs selbstverständlich, dass Langerman die Sammlung nach Berlin als ehemaliger Schaltstelle des Massenmordes gibt. Die Stadt werde sein Vertrauen nicht enttäuschen. Auch angesichts steigender Zahlen von antisemitischen Vorfällen in Berlin und bundesweit sei eine "kritische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Shoa und ihren Ursachen" weiterhin unerlässlich.